Ankommen und Klasse sein
Die Zahl ausländischer Kinder in Burgdorf steigt seit Jahren stark an. Das Mehrgenerationenhaus (BMGH) unterstützt viele von ihnen und feiert 2022 zehnjähriges Jubiläum. Eines seiner großen Projekte: eine Ankommensklasse, um den internationalen Kindern den Start zu erleichtern.
Das Klassenzimmer ist blau weiß gestrichen und mit Teppichboden ausgelegt. An den Wänden hängen viele Landkarten: Deutschland, Europa und die Welt. Außerdem zwei große private Fotoaufnahmen von der Ostsee. Emilin sitzt konzentriert mit gerunzelter Stirn an einem der großen weißen Schreibtische. Sie trägt eine ausgewaschene Jeans zu einem gelben Kleid, dass an einen modernen Sari erinnert.
„I get 8 Euro“, zeigt Google Translate auf Emilins Handy an. Die 13-Jährige runzelt noch immer die Stirn. Vor ihr liegt aufgeschlagen ein dickes gelbes Deutschheft „A1“- Anfängerniveau. „Ne, ne, so geht das nicht!“, ruft Lehrerin Melanie Sierralta, die merkt, dass Emilin die Aufgabe noch nicht verstanden hat. „Der Handy Übersetzer soll nur im Notfall angewendet werden“, erklärt sie. Das Mädchen legt das Handy wieder auf den Tisch. Es bringt die 13-Jährige aber sowieso selten weiter. Ihre Muttersprache ist Malayalam, eine Sprache, die vor allem an der Südwestküste Indiens gesprochen wird. Selbst der Google-Übersetzer kommt damit oft nicht klar. Und Emilin hat nicht wie ein paar ihrer Mitschüler eine zusätzliche Hilfslehrerin in Muttersprache dabei.
Immer mehr ausländische Kinder in Burgdorf
Mit neun anderen Kindern geht Emilin in die Ankommensklasse in Burgdorf. Anders als in den Nachbarorten gibt es in Burgdorf eine extra Schulklasse im Mehrgenerationenhaus, um die Schulen zu unterstützen: 2012 gab es bei den Kindern in Burgdorf noch einen Ausländeranteil von 2,6 Prozent.
Dieser Wert ist in den vergangenen Jahren stark durch Geflüchtete und Arbeitssuchende gestiegen. Heute – 10 Jahre später – liegt die Anzahl ausländischer Kinder in Burgdorf bei 14,6 Prozent.
„Ungefähr alle zwei Wochen kommt ein neues Kind aktuell in Burgdorf an“, sagt Ursula Wieker, Leiterin des Burgdorfer Mehrgenerationenhauses.
Das stelle die Schulen vor große Herausforderungen. Um die Lehrerinnen und Lehrer und die Klassen zu entlasten, wurde die Ankommensklasse gegründet. Hier lernen die Kinder täglich Deutsch und Mathe, um bestmöglich auf die „echte“ Schule vorbereitet zu werden.
Anders als in der Schule wird in der Ankommensklasse nach einem anderen Curriculum gelehrt und keine Noten vergeben. Außerdem ist die Klasse kleiner und es gibt eine extra Hilfslehrkraft in der Muttersprache mancher Kinder.
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Typische Rollenverteilung gibt es auch hier
Die Ankommensklasse – das ist Emilin mit ihrem modernen Sari, das ist Safa aus Afghanistan, deren Arbeitsblätter so ordentlich sind, dass sie von der Lehrerin oft als Kopiervorlage genommen werden. Das ist Mustafa aus Afghanistan, der gerne „Doktor Google“ nutzt und viele kuriose deutsche Sätze vorliest. Rilind aus dem Kosovo, der gerne mal bei seiner großen Schwester abschreibt und Josef aus Utah, der für seine originellen Ideen bekannt ist.
Rechts neben Emilin sitzt Nabhan aus dem Irak. Sein Blick ist etwas skeptisch und schüchtern, nach seiner Kleidung ist er aber der “Checker” der Klasse: Jeans mit großen Löchern, stylische Turnschuhe und ein weißer Pullover mit einem fetten “Los Angeles”-Aufdruck.
Der 13-Jährige ist erst vor ein paar Wochen neu in die Klasse gekommen und braucht noch mehr Unterstützung. „Nabhan, du schaust mich so böse an. Unterricht macht Spaß!“, sagt Lehrerin Carmen Damker und geht nochmal die Aufgaben einzeln mit Nabhan durch.
„Jedes Kind bringt hier sein eigenes Päckchen mit in die Klasse“, sagt Damker.
„Viele Kinder sind gut beschult, kommen aus akademischen Haushalten. Aber es gibt genauso auch Kinder, die eine Fluchtgeschichte im Hintergrund haben, die Familienmitglieder verloren haben, Schlimmes in Kriegsgebieten erlebt haben und somit auch oftmals blockiert sind im Unterricht, weil sie eben ganz andere Sachen im Kopf haben, als deutsche Grammatik.“
Gelingt die Integration?
Mariam hat diesen langen Weg schon hinter sich. Sie ist vor zwei Jahren von Syrien nach Deutschland geflüchtet und ein halbes Jahr in der Ankommensklasse verbracht. Jetzt steht sie kurz vor ihrem Realschulabschluss an der IGS Burgdorf. Sie will Medizin studieren, alles über den menschlichen Körper wissen, sich ihren Traum erfüllen, sagt die 17-Jährige selbstbewusst. Auf ihrem letzten Zeugnis hatte sie in Deutsch eine Zwei und in Mathe sogar eine Eins.
Mariam erinnert sich noch gut an ihre Zeit in der Ankommensklasse: „Die Lehrerinnen geben einem Aufgaben, die man versteht, nicht so schwere Aufgaben wie in der Schule. Und die Lehrerinnen verstehen uns glaube ich in der Ankommensklasse besser, weil die uns erstmal nur die Sprache beibringen.“
Um 12 Uhr ist in der Ankommensklasse Pause. Doch die Jugendlichen bleiben lieber alle an ihrem Tisch sitzen. Kaum einer unterhält sich mit der Nachbarin oder mit dem Nachbarn. Wie auch, wenn keiner die gleiche Sprache spricht. Emilin sitzt mit ihrer Schwester Femilin vor dem Handy. Sie spielen „freefire“, einem Spiel, bei dem es ums Überleben geht. Gekonnt streicht Emilin mit ihren korallfarbenen Fingernägeln über das Display.
Sie erzählt etwas leiser, dass sie Freunde bislang in der Ankommensklasse noch nicht gefunden habe. Ihre Schwester dagegen schon, sie hat sich mit einem syrischen Mädchen angefreundet. Aber genau deshalb freue sich Emilin auch ganz besonders auf die neue Schulklasse nach den Osterferien.
Mariam hat inzwischen viele Freunde auf der IGS Burgdorf. „Muttersprachen-Freunde und deutsche Freunde“, erzählt sie mit einem Lächeln im Gesicht. Die habe sie nach der Ankommensklasse besser finden können, weil sie sich eben schon deutlich besser verständigen konnte.
Das sagen Kritiker
Auf Nachfrage beim Flüchtlingsrat Niedersachsen äußert dieser sich positiv über die Ankommensklasse in Burgdorf. Das Modellprojekt sei ein gutes Konzept, um den Kindern am Anfang Orientierung zu ermöglichen und sie individuell zu fördern. Nach wenigen Monaten sollten die neuen Kinder aber möglichst schnell in eine richtige Schule inkludiert werden, sodass eine soziale Isolation auf jeden Fall vermieden werde.
Der Flüchtlingsrat kritisiert aber, dass langfristig die Regelschulen mit besseren Systemen ausgestattet werden sollten, um eine solche individuelle Betreuung dort zu gewährleisten.
Herausforderungen meistern mit Google Translate.
Unterrichtsthema: deutscher Alltag
Bei Emilin geht es heute im Unterricht um alltägliche Themen. „Wie viel Taschengeld bekommst du, Emilin?“, fragt die Lehrerin. Emilin wippt etwas nervös mit den Knien und richtet ihre Maske. „Ich (Pause) bekomme (Pause) kein Taschengeld“, sagt sie sehr angestrengt. Die Verständigung klappt schon ganz gut, nur diese Antwort wollte Lehrerin Sierralta nicht hören.
Deshalb erzählt sie den Jugendlichen wie man in Burgdorf als Schülerin und Schüler Geld mit Babysitten dazu verdienen kann.
- „Entschuldigung? Ab wann Babysitter?“, fragt Emilin aufgeregt.
- ,,Ab 13 Jahren! Das machen ganz viele Mädchen hier in Burgdorf. Da gibt es einen Kurs, um das zu üben”, erklärt Lehrerin Sierralta.
Lehrerin Damker fordert Nabhan, den “Checker”, auf, eine Frage zu konzipieren: ,,Womit liest du?“ – „Super! Da wird mir ganz warm ums Herz!” Frau Damker ist begeistert und erzählt der Klasse, was Nabhan für tolle Fortschritte mache. Den Lehrkräften ist wichtig, viel zu loben.
„Es hilft nichts, wenn ich den Schülern sage, falsch, falsch, falsch und ständig unterbreche. Schwierig! Ich muss ihn also sprechen lassen und dafür loben, dass er gesprochen hat. Und dann moderat auf die Fehler hinweisen, sodass er nicht den Ehrgeiz verliert.“
Die kleinen Erfolgserlebnisse
Die letzte Stunde bricht an – endlich Mathe! Emilin freut sich, denn das ist ihr Lieblingsfach. „Zwei mal Acht?“, fragt die Mathelehrerin. „16!“, schreit Emilin laut der Lehrerin mit einem leichtem Akzent entgegen, zeigt mit voller Energie den Zeigefinger auf sie und lacht dabei herzlich. Sie gewinnt alle drei Runden beim Einmaleins-Ratespiel. Für das Zahlen-Verständnis braucht man eben keinen Online-Übersetzer.