„Von der Hand direkt in den Mund zu leben ist sehr belastend“

Seit ein paar Monaten wohnt Stefan auf der Straße. Betteln möchte er nicht. Deswegen verkauft er verschiedene Obdachlosenzeitungen. 

Am Gleis des S-Bahnhofs Warschauer Straße ist viel los. Als die S7 einfährt, drängen sich die Menschen hinein. Darunter ein Mann in blauem Regenmantel mit einem Stapel Zeitungen unterm Arm. Laut bewirbt er sie, doch die meisten Fahrgäste schauen weiterhin auf ihr Handy oder unterhalten sich. Nur eine Frau mit einem Kinderwagen kauft eine Ausgabe.

Die Straßenzeitung kostet 2,50 Euro und heißt „Arts Of The Working Class“. Stefan, 41, verkauft sie seit ein paar Monaten. Direkt nach seiner Entlassung wurde er obdachlos. Er hat ein freundliches Gesicht, überlegt lange bevor er spricht, spricht sehr klar. Stefan geht offen mit seiner persönlichen Geschichte um: Früher habe er Drogen genommen und sei in Haft gewesen. Dann habe er Menschen kennengelernt, die mit dem Verkauf verschiedener Obdachlosenzeitungen ihr Geld verdienten. Harte Drogen nimmt Stefan mittlerweile nicht mehr.

Früher hat Stefan in verschiedenen Bereichen gejobbt, im Büro und handwerklich gearbeitet. Jetzt finanziert er sich durch den Zeitungsverkauf. Neben der „Arts Of The Working Class“ gibt es in Berlin eine Handvoll Obdachlosenzeitungen, die unterschiedlich arbeiten. Je nach Modell nehmen Verkäufer und Verkäuferinnen entweder mindestens die Hälfte oder sogar den gesamten Verkaufspreis ein. Der Verein „Motz“, der auch ein gleichnamiges Straßenmagazin herausgibt, betreibt zum Beispiel eine Notübernachtung, in der man auch duschen und das Internet nutzen kann. 

Stefan sagt, dass er verschiedene Zeitungen verkauft. Sein Verdienst liege bei einer Zeitung, die 2,50 Euro kostet, meistens bei 2 Euro. Es fühle sich ehrenvoller an, als zu betteln.“Von der Hand direkt in den Mund zu leben ist sehr belastend“, sagt Stefan. Der Zeitungsverkauf sei auch eine bessere Alternative für Frauen, die sich andernfalls gezwungenermaßen prostituieren müssten.

2020 waren etwa 50.000 Menschen in Berliner Notunterkünften untergebracht, etwa 2000 lebten auf der Straße. Viele von ihnen leiden unter Hunger, Suchtkrankheiten und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Doch Stefans Erfahrungen mit anderen obdachlosen und suchtkranken Menschen sind auffällig positiv: „Der Zusammenhalt hat mich wirklich überrascht.“ Konkurrenz unter den Verkäufern und Verkäuferinnen der Straßenzeitungen in S- und U-Bahn gäbe es nicht, da sie sich miteinander arrangieren und U- und S-Bahnen untereinander aufteilen. 

Obdachlose und Suchtkranke in Deutschland berichten manchmal von Polizeigewalt und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Stefan hingegen hat sowohl mit der Polizei als auch mit Menschen, denen er Zeitungen verkauft, hauptsächlich positive Erfahrungen gemacht. Trotzdem möchte Stefan nicht langfristig auf den Zeitungsverkauf angewiesen sein. Er möchte sich später eine Wohnung suchen und wieder arbeiten.

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