VERWANDELT

Die Freiheit zu fallen und zu fliegen

Manege frei: Rostislav Novák hat mit Jatka78 vor fast zehn Jahren in einem alten Schlachthof in Prag einen einzigartigen Kulturraum geschaffen. Neuer Zirkus, Theater, Tanz, Musik und moderne Kunst sind hier vereint. Doch die Zukunft dieses Ortes ist ein Drahtseilakt.

Beim Eintreten eröffnet sich hinter den alten Gittern des Schlachthofes die lichtdurchflutete Galerie von Jatka78. ©Anna-Lena Kaufmann

Rostislav Novák ist ein Mann voller Tatendrang. Selbst im Sitzen drängt sein Körper nach vorne, der nächsten Idee, dem nächsten Projekt entgegen. Er öffnet auf seinem Laptop ein Video. Funken sprühen über den Bildschirm, Farbrollen übertünchen das Grau der alten Gemäuer, Vorschlaghammer brechen Wände ein. Es sind die ersten Tage von insgesamt zwei Monaten im Jahr 2014, an denen er gemeinsam mit „völlig unterschiedlichen Menschen, die durch Begeisterung und Energie verbunden waren“, einen alten Schlachthof in einen Ort der Kunst verwandelt. Das geschlachtete Vieh aus den 1970er Jahren ist längst Vergangenheit, nur noch die Gitter an Fenster und Türen erinnern daran. Auf diesen 4.500 Quadratmetern in den Hallen 7 und 8 im Prager Stadtteil Holešovice pulsiert heute das kulturelle Leben.

Wie Akrobaten fliegen lernen

Stolz liegt in seinem Blick, wenn Rostislav Novák an die Anfänge und Anstrengungen zurückdenkt. Seine silberne Kreole wippt auf und nieder, während er zustimmend nickt. „Jatka war eine leere Halle, ohne Heizung, minus 10 Grad im Winter. Wir waren in Schneekleidung und sprangen auf dem Trampolin.“ Und doch haben sie jeden Moment als einen Moment der Freiheit genossen. „Der Anfang war unglaublich, weil wir hier in Tschechien keine Zirkusschule haben. Wir mussten uns selbst durch Fehler und Versuche, Springen und Fallen und Fliegen und Fallen ausbilden“, erinnert sich Novák.

Er ist das Kind einer Dynastie von Puppenspielern. Die Tradition lastete schwer auf ihm, lange Zeit versuchte er, dem Zirkus und dem Theater zu entkommen. Bis er 2001 ein zeitgenössisches Zirkusstück vom französischen Que‑Cir‑Que sah – der Bann war gebrochen. Rostislav Novák begann davon zu träumen, seine eigene moderne Zirkuskompagnie zu gründen, die Akrobatik, Puppenspiel, Tanz und Schauspiel vereint. Damit gelang ihm etwas Neues: Er brachte den Cirque Nouveau, den zeitgenössischen Zirkus, nach Tschechien. Mit Jatka78 eröffnete er einen Raum, der sowohl für Proben als auch für Aufführungen geeignet ist. „Wir hatten nun diesen Raum und wir probten wie die Besessenen nach der Arbeit in der Nacht, frühmorgens vor der Arbeit und wieder nach der Arbeit.“

Ein moderner Zirkusdirektor in seinem Gewand: Rostislav Novák Jr. schafft einen neuen Raum für den zeitgenössischen Zirkus in Tschechien. ©Pavel Hejný

Heute stehen seine Söhne mit ihm auf der Bühne, seine Frau macht die Kostüme und das Make‑Up, sein Bruder Vít ist der Leiter des Produktionsteams, Vater und Mutter sind bei einigen Shows ebenfalls mit auf der Bühne. Rostislav Novák selbst ist jetzt mehr geschäftsführender Direktor als Darsteller, aber das will er ändern und zurückkehren ins Rampenlicht.

Die Vielfalt des Cirque Nouveau

Singende Luftakrobaten, jonglierende Poeten, tanzende Illusionisten: Novák strebt danach, mit Menschen zusammenarbeiten, die so vielseitig sind wie seine Visionen. „Ich suche Künstler, die multidisziplinär sind. Sie sollen einen wunderschönen Monolog sagen können und mit dem letzten Wort einen doppelten Rückwärtssalto springen, sich danach aufschwingen und ein Lied in 14 Metern über der Bühne singen“, erklärt er und malt mit seinen Händen kreisende Bewegungen in die Höhe, die von seinem klirrenden Silberschmuck begleitet werden.

Genau so funktioniert auch dieser Ort für ihn. „Hier ist unser eigener Raum, in dem man die Grenzen zwischen den Genres überschreitet. Und das ist einzigartig – es ist kein Raum, in dem man nur Theaterstücke oder nur Tanzstücke sehen kann. Alles basiert auf der zeitgenössischen Zirkuskunst‑Philosophie.“ Mit modernen Kostümen und Choreografien und dem Sound des 21. Jahrhunderts entstehen surreale Bühnenerlebnisse. „Wenn die Leute zeitgenössischen Zirkus nicht kennen, sind sie überrascht von dem, was sie sehen. Wenn die Leute es doch schon kennen, sind sie es auch – von der Art und Weise, wie frei wir verschiedenste Elemente verbinden.“

Freiheit als Devise

Freiheit ist ein großes Wort. Eines, das Novák immer wieder erwähnt und das der Motor all seines Handelns zu sein scheint. „Denn durch meine Eltern, meine Großeltern, mein Land weiß ich, was es bedeutet, ohne Freiheit zu leben.“ Die Geschichte der Freiheit ist für ihn in Tschechien eine junge. Und doch schwingt in jedem seiner Sätze das Selbstbewusstsein mit, aus Prag zu sein, ein Tscheche zu sein. „Wir haben gelernt, wie man aus dem Nichts großartige Projekte schafft.“

Auf der großen Bühne in Jatka78 treffen die verschiedenen Kunstformen und Künstler aus aller Welt zusammen.
©Pavlína Saudková

Im Schnellschritt durchschreitet Rostislav Novák die weitläufigen Hallen, ein knappes „Ahoj“ jedem zurufend, der den Weg kreuzt. Hugo, seine französische Bulldogge, trabt schnaufend an der Leine neben ihm her. Trainingshalle, Hauptbühne, kleine Bühne, Proberaum, Kostümfundus – „das Reich meiner Frau“ –, Maske – „auch das Reich meiner Frau“ –, zwei Apartments für Residenzen internationaler Künstler, Lagerraum, zurück in die große Empfangshalle mit einer Galerie wechselnder Ausstellungen und mit Gastronomieangebot. Gerade ist Sommerpause im Vorstellungsbetrieb von Jatka. Aber Seile werden gepackt, Stangen verladen, Transportkisten gerollt: Morgen tourt ein Teil der Kompagnie nach Budapest.

Unermüdlich weiterträumen

Anfang September beginnt in Prag die neue Spielzeit mit sieben Premieren. Nächstes Jahr feiern sie zehnjähriges Bestehen von Jatka78. Ein Schatten legt sich über Rostislav Nováks Gesicht, er atmet scharf ein und presst die Lippen schmal zusammen. Die Frage nach der Zukunft ist keine einfache. Die Vorstellungen sind beliebt, die 342 Plätze im Publikumsraum der großen Bühne beinahe jeden Abend ausverkauft. Aber Jahr um Jahr muss Novák auf den nächsten Einjahresvertrag vom Prager Rathaus hoffen. Damit nicht genug: Wenn es regnet, tropft es in die Trainingsräume. Es tropft sogar auf die Bühne. Immer wieder vertröstet die Stadt Prag sie mit den Renovierungsarbeiten.

Trotzdem schmiedet Novák Pläne. Der dramaturgische Plan steht bereits bis zum Ende 2028. „Wir wissen, was wir jedes Jahr machen werden, welche Premieren und mit welchem Regisseur.“ Er möchte nicht mehr warten. Der nächste Termin ruft und auch die nächste Idee. Seine Suche nach neuen Ausdrucksformen endet nie. Rostislav Novák wünscht sich, unter besseren Bedingungen an diesem Ort bleiben zu können – und dass die Stadt Prag seinen Visionen vertraut. Denn es braucht für ihn einen solchen Ort wie Jatka78 – und die Freiheit, dort fallen und fliegen zu lernen.

Hier pulsiert das Leben: Jatka78 in den Markthallen von Holešovice ist ein beliebter Kulturort der Prager Szene, fernab der Besuchermassen der Altstadt. ©Anna-Lena Kaufmann

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