VEREINIGT

Unter Nachbarn

Wenige andere Staaten unterstützen die Ukraine so stark wie Deutschland und Tschechien. Doch das war nicht von Beginn an so. Lange enttäuschte die deutsche Politik den Nachbarn. Ein Stimmungsbild aus Prag.

Von Giosue Tolu

Allerorts in Prag ist Ukraine. Die Prager Tram schlängelt sich in blaugelbem Anstrich durch die Straßen der Stadt. Aus den Fenstern vieler Häuser wehen blaugelbe Flaggen. Vom Nationalmuseum hängt ein blaugelbes Banner herab. Am Kinsky-Platz liegt ein zertrennter Panzer auf einer Wiese, eine Skulptur des tschechischen Künstlers David Černy. Früher war der Panzer pink, jetzt ist er: blaugelb. 

Schon bevor Russland die Ukraine im Februar 2022 überfiel, sicherte die tschechische Regierung ihr ihre Unterstützung zu. Kein anderes Land hat pro Kopf so viele ukrainische Geflüchtete aufgenommen. Tschechien war einer der ersten Staaten, die nach Beginn des Angriffskriegs schwere Waffen lieferten. Deutschland hingegen zögerte lange – und enttäuschte seinen Nachbarn. Wie blickt Tschechien heute auf die Bundesrepublik? 

An der deutschen Botschaft in Prag sind drei Flaggen gehisst. Die deutsche, die der Europäischen Union und die ukrainische flattern an der Fassade des Palais Lobkowicz. Vor dem geschichtsträchtigen Gebäude rattern Taxen über das Kopfsteinpflaster. Es ist der Ort, an dem einst tausende DDR-Bürger Zuflucht suchten und fanden. Heute sind hier kaum Menschen unterwegs, der ehrwürdige Palast im Barockstil auf der Prager Kleinseite schimmert gelblich im Sonnenlicht. An diesem Ort arbeitet Martin Sielmann. Er ist seit mittlerweile zwei Jahren Pressesprecher der Deutschen Botschaft. Mit einer einladenden Geste bittet Sielmann durch eine Tür. Er schreitet die Treppen hinauf zu seinem Büro. Es ist ein heller Raum mit hohen Fenstern und Parkettboden. Über der Lehne eines Schreibtischstuhls liegt eine Regenbogenflagge. Bald ist hier Prague Pride, die deutsche Botschaft wird sich dem Marsch anschließen.

Sielmann setzt sich in einen schwarzen Ledersessel und überschlägt seine Beine. „Seit der Jahrtausendwende haben die Tschechen ein immer positiveres Bild von Deutschland bekommen. Das belegen auch Umfragen.“ Mit Ausnahme eines Knicks im vergangenen Jahr. Denn ab Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben Tschechinnen und Tschechen vor der Deutschen Botschaft protestiert. Nicht viele, sagt Sielmann, aber die Kritik sei stark gewesen. Weil die deutsche Regierung sich in der Causa Nord Stream zunächst nicht von russischem Gas trennen konnte. Weil sie der Ukraine lange keine Waffen liefern wollte. Und dann war da ja noch die Sache mit den 5.000 Helmen, die die Bundeswehr spendete, während Tschechien Kampfpanzer ins Kriegsgebiet schickte.

„In Deutschland hatten bis kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine viele einen anderen Blick auf Russland als die Menschen in Tschechien. Denn die Tschechen haben aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Geschichte eine ganz andere Beziehung zu Russland. Deswegen haben sie Deutschland zum Handeln aufgefordert.“ Wie es für ihn gewesen sein, die Proteste vor der Botschaft zu sehen? Sielmann zögert. „Man nimmt das professionell.“ Der Diplomat gibt sich diplomatisch. „Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, wie viel Solidarität die Pragerinnen und Prager zeigen.“

Diese Solidarität und die schnelle Reaktion der tschechischen Regierung haben auf tschechischer Seite auch zu einem neuen Selbstverständnis geführt. „Viele Tschechen haben gesagt: Jetzt sind wir mal besser als Deutschland, wir können den Ton angeben.“ So sagt es Vladimír Handl. Der Tscheche lehrt deutsche Außenpolitik an der Prager Karls-Universität, hat in Deutschland gelebt und gearbeitet, hat dort Freunde und Kollegen. Handl sitzt umringt von Umzugskartons an seinem Schreibtisch in der Fakultät für Sozialwissenschaften. In den Kartons sind ausschließlich Bücher. Das meiste ist Fachliteratur über Deutschland, auf einem Cover ist Willy Brandt zu sehen. Über den heutigen Bundeskanzler sagt Handl: „Scholz ist kein Charmer.“ Er sei ein Status-Quo-Mann, der keine großen Veränderungen wolle. 

Handl erzählt ausführlich von den Tschechen. Dabei guckt er fast nur nach unten, meidet Blickkontakt, fast als schäme er sich ein bisschen für das, was er nun sagt. Er sagt, dass Deutschland für seinen Nachbarn wirtschaftlich der wichtigste Partner sei, es sich andersherum aber nicht so verhalte. Dass man in Tschechien mit diesem asymmetrischen Verhältnis oft hadere. Dass die sogenannte feministische Außenpolitik der Bundesregierung für viele Tschechen ein „laughingstock“, also Anlass zum Gespött sei. Dass die tschechische Gesellschaft islamophob sei, obwohl es hier kaum Menschen islamischen Glaubens gibt. Und dass die tschechische Bevölkerung allgemein in großen Teilen auf ähnlichem Kurs wie die deutsche AfD sei. Abgesehen von einem wichtigen Punkt: dem Verhältnis zu Russland. 

Die deutsche Russlandpolitik habe man in Tschechien zwar lange als „wackelig“ wahrgenommen. „Das hat aber nie zu einem Spannungsverhältnis geführt“, sagt Handl. „Deutschland und Tschechien sind in vielen Fragen kompatibel.“ Beide Länder sind keine nuklearen Großmachten, beide waren abhängig von russischem Gas. Das bedeutete gemeinsame Interessen und Raum für Solidarität. Und irgendwann hat die deutsche Regierung Fahrt aufgenommen. „So wie die tschechische Öffentlichkeit es sieht, macht Deutschland sich nicht mehr zum Idioten der russischen Politik.“

Was den Krieg und seine Auswirkungen angeht, sehen die Tschechen Deutschland mittlerweile als Teil der Lösung, nicht als Teil des Problems. Beim Thema Gas hat man sich bereits im vergangenen Sommer gegenseitig Solidarität zugesichert. Das Gas kommt jetzt aus den Niederlanden durch Deutschland nach Tschechien. Die tschechischen Gasspeicher sind so voll wie nie zuvor. Bei den Waffenlieferungen könne es zwar immer noch schneller gehen, aktuell etwa bei den Marschflugkörpern vom Typ „Taurus“. Handl fasst sich an den Kopf. „Das dauert so lange, ich verstehe das einfach nicht.“ Aber immerhin, Deutschland liefert Waffen.

Im Großen und Ganzen sind Deutschland und Tschechien sich gerade also einig. Doch wie geht es weiter? Fest steht, dass die Ukraine der EU beitreten will. Die tschechische Regierung wird sie dabei unterstützen. Und Deutschland? Hier in Prag werden sie genau verfolgen, wie viel blaugelben Anstrich sich der Nachbar zutraut.

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