Sie lebt in den Linien weiter
Nach dem Tod ihrer Mutter findet die Künstlerin Yuehui Liu Trost darin, lange Linien zu malen. Die hat ihre Mutter schon als Schneiderin auf Schnittmuster gezeichnet.
Ohne abzusetzen, fährt Yuehui Liu, 34, mit einem Kugelschreiber über das Papier und lässt immer neue Linien entstehen. Linien, wie sie schon ihre Mutter als Schneiderin auf unzählige Schnittmuster gezeichnet hat. Hier an der Spree hat sie ihren Stand aufgebaut, auf dem Berliner Kunstmarkt auf der Museumsinsel: einem der touristischsten Orte in Berlin. An jedem Wochenende kommen hier tausende Besucherinnen und Besucher vorbei. Viele von ihnen bleiben stehen, folgen Lius Stift aufmerksam mit ihren Blicken. Im Hintergrund, leise, spielt ein Mann die E-Gitarre, direkt auf der Eisernen Brücke.
Die Künstlerin, ursprünglich aus China, kam vor ungefähr 12 Jahren für ein Studium nach Berlin. Hier studierte sie acht Jahre lang an der Kunsthochschule Weissensee. Auf dem Berliner Kunstmarkt stellte sie schon während ihres Studiums aus.
Wenn Liu dort steht, wie heute, denkt sie oft an ihre Mutter. „Mama ist in den Linien und ihre Liebe“, sagt sie. Im Jahr 2012 haben die dann einen noch emotionaleren Wert für die Künstlerin bekommen. Denn damals ist ihre Mutter gestorben. Eine schwierige Zeit für sie begann.
Zwei Jahre lang zeichnete Liu nur noch dunkle Bilder. Was damals entstanden ist, heute nennt sie es „dunkle Arbeit“. Düstere Wolken aus Farbe. Und dennoch: „Sie waren Medizin für mich“, sagt sie. Mit ihnen habe sie damals ihren Verlust verarbeitet, ihre dringenden Gefühle und Emotionen zum Ausdruck gebracht. Zeitweise litt sie damals unter Depressionen. Die Kunst half ihr dabei, wieder glücklich zu werden. ,,Mit Zeichnen geht das Leben immer besser“, sagt sie. „Es hat dann mehr Sonne und Hoffnung.“
Nachdenklich schaut Liu auf das Papier und denkt nach. Kurz ist sie still, bis sie ein Kunde anspricht, auf ein Bild zeigt. Eines derer, die sie mit schwarzen Linien gezeichnet hat. Sie gibt es ihm, rechnet ab und erzählt ihre Geschichte, zumindest in Kurzform, das ist ihr wichtig.
Liu scheint zu wollen, dass die Käuferinnen und Käufer den Wert verstehen, den die Kunst für sie hat. Auf Preisschilder schreibt sie kleine Hinweise auf Englisch: „The Works are small, but full of love“ oder „The gift is small, but the heart that loves you is big“.
Auch außerhalb des Marktes verkauft Liu ihre Kunst, kann damit ihr Leben finanzieren. In Charlottenburg, wo sie lebt, hat sie ihr eigenes Studio. Ihre Werke brauchen Zeit. Bis sie mit einem Bild fertig ist, kann es auch mal bis zu zwei Monaten dauern. „Manchmal lege ich ein Bild für längere Zeit weg und zeichne es erst viel später zu Ende. Manchmal auch mal nach einem Jahr.“
Für sie lebt ihre Mutter in ihrer Kunst, ihren Linien, weiter, sagt sie. So lange sie sie weiter zeichnet, fühlt sie sich mit ihr verbunden. Und das scheint ihr zu helfen: Waren ihre Bilder einst schwarz-weiß, aus Trauer, zeichnet Liu heute wieder bunt.