Trauer und Ausdauer

Als seine Frau im Sommer 2020 stirbt, ist Eric Van Delden allein mit drei kleinen Kindern. Er hat kaum soziale Kontakte und die Trauer lähmt ihn. Aber dann fängt er mit Liegestützen an. Aus zwei werden 30.000 in 18 Monaten. Sein Ziel für 2022: Vier Millionen Schritte, 10.000 Kniebeugen und 2022 Kilometer joggen.

5 Grad Celsius, 15 km/h und Kilometer 312 in diesem Jahr. Eric van Delden trägt kurze graue Shorts, darunter eine enge Laufhose. Schuhe, Shirt und sogar die Socken sind in knalligem Orange perfekt aufeinander abgestimmt. Die weiße Uhr am Handgelenk des 45-Jährigen zeichnet jede seiner Bewegungen auf. Leise und regelmäßig lassen seine Füße den Schotter unter seinen Sportschuhen auffliegen. Sein Gesicht ist entspannt, trotz der 15 km/h.

Er trainiert für den Halbmarathon in Zürich im April, eines seiner Ziele in 2022. Insgesamt vier sollen es dieses Jahr werden, außerdem ein Marathon. Seine Erfolge trackt er in einer App. Seit etwa einem Jahr läuft der Vater dreier Söhne mehrmals die Woche. Meist mit Musik auf den Ohren. Wenn er Sport treibt, schaltet die Welt auf stumm.

Rückblick

Knapp zwei Jahre ist es her, dass bei seiner Frau Krebs diagnostiziert wurde. Im Februar 2020 erkennen ihre Ärzte die aggressive, sich schnell ausbreitende Krankheit. Lebenswichtige Organe sind zu dieser Zeit bereits befallen. Rasch wird den jungen Eltern klar, dass Johanna den Herbst nicht mehr erleben wird. Eric, der zuvor im Ausland lebte, steigt aus seinem Job aus und zieht nach Deutschland zu seiner Familie. Hier verbringt er die letzten fünf Monate mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern. Obwohl sich ihr Tod ankündigt, ist es ein Schock. Er ist müde und erschöpft und hat zugleich das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen

Das Projekt

Am Tag nach ihrem Tod macht er zwei Liegestütze. „Ich meine, die meisten Leute auf der Welt schaffen zwei Liegestütze, ich musste mehr schaffen“, erzählt er.

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Eric absolviert zwischen Juli 2020 und Januar 2022 30.000 Liegestütze. Sie verschaffen ihm als tägliche Routine einen Ausgleich: „Es war wie eine Art Insel. Wenn ich Liegestütze gemacht habe, dachte ich an nichts anderes.“

Sein Gesicht sinkt bis knapp über den Boden, rasch drückt er sich wieder nach oben. Die Hände liegen schulterbreit auseinander, seine Finger suchen Halt im feuchten Gras. Die Schultern nähern sich langsam dem Boden, knapp über den klammen Halmen hält er inne und drückt seinen Oberkörper wieder Richtung Himmel. Arme durchstrecken und beugen, Arme durchstrecken und beugen. Stetig wiederholt er die Übung. Die Muskeln am Rücken sind das Ergebnis seiner Übung.

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“Wie lange wird es dauern? Wie lang werde ich mich so fühlen?”, fragt sich Eric Van Delden nach dem Tod seiner Frau. „Es gibt keine richtige Antwort, aber Leute sagten, in zwei Jahren fühlst du dich besser.“ Zwei Jahre sind lang. „Ich wollte nicht jeden Tag auf den Kalender schauen mit der Frage ‘Sind zwei Jahre vorbei? -Nein, es sind 40 Tage – Sind zwei Jahre vorbei? Nein, es sind 42 Tage.’ Also überlegte ich mir, wie viele Liegestütze könnte ich in zwei Jahren machen? Da fing ich an“ Er lädt sich eine App auf sein Smartphone und beginnt seine Liegestütze mitzuzählen. Die 30.000 zu erreichen, ist sein neues Ziel und er will sicher gehen, dass er dieses auch erreicht.

Der Instagram Account

Er startet außerdem einen Instagram Account und teilt Fotos und Videos von sich, wie er seine Liegestütze absolviert. Mal ist das Wohnzimmer, mal das Schlaf- oder Kinderzimmer im Hintergrund zu sehen. In einem Video turnt ein kleiner blonder Junge neben ihm. Voller Begeisterung grinst er in die Kamera und tut es seinem Vater gleich. Die Zahl seiner Liegestütze trägt Eric jeden Tag in eine App ein und veröffentlicht auf Instagram monatlich eine Übersicht. Die erste Tabelle zeigt die Ergebnisse für den Monat Juli, da hat er 78 Liegestützte geschafft. Vier Personen haben hier „Gefällt mir“ gedrückt. Doch Eric geht es nicht darum, möglichst viele Likes zu bekommen.

Für Eric hat der Instagram Kanal andere Vorteile: Zum einen fühlt er sich verpflichtet, sein Liegestütz Projekt beizubehalten. „Selbst wenn mir nur vier Leute folgten, fühlte es sich an, als seien vier Augenpaare auf mich gerichtet, die mir vorwerfen ‚Oh Eric, du hast deine Liegestütz heute noch nicht gemacht‘“. Das steigert die Motivation weiterzumachen.

Über die Plattform findet er außerdem Kontakt zu anderen Betroffenen. Wie er teilen viele ihren Weg, mit der Trauer umzugehen: „ob es Jogging oder Kochen oder Schreiben oder was auch immer ist. Sie hatten alle etwas gefunden, was ihnen half“.

Der Austausch

Über die sozialen Medien findet er andere Menschen, die ähnliches durchmachen und fasst neuen Mut. So kommt er in kleinen Schritten vorwärts. Die Vernetzung mit anderen hilft dabei, schwierige Situationen einzuordnen: „Du realisierst, dass das Leben wirklich wertvoll ist und du jeden Tag auskosten willst, aber gleichzeitig trauerst du, bist erschöpft und müde. Du fragst dich: Habe ich einen traurigen Tag oder gehe ich an den Strand? Und irgendwann realisierte ich, dass ich auch am Strand traurig sein kann.“ Für Eric schließen sich Glück und Trauer nicht mehr gegenseitig aus. Sie können nebeneinander stehen und zueinander gehören. „Wenn ich zum Beispiel meinem Sohn auf dem Spielplatz beim Schaukeln zuschaue, und er ruft ‚Papa schau mal, schau mal‘. Dann kann ich glücklich und traurig zugleich sein. Glücklich weil mein Kind glücklich ist und gleichzeitg traurig, weil ich denke ‚Oh seine Mutter hätte das geliebt!‘“

Manchmal lässt er seinen vierjährigen Sohn Louie sein Laufoutfit auswählen. Dann rennt er seine Runden auch in pinken Schuhen, blauen Socken und regenbogenfarbenem Shirt. Das stört ihn nicht. Er lacht, wenn er davon erzählt. Er ist sichtlich stolz auf seine Söhne. Der Siebenjährige Henry ist ganz scharf auf die gemeinsamen „Run and Rides“. Der Vater läuft und der Sohn fährt mit seinem Rad nebenher. Meist nutzt er aber doch die Zeit, in der die Kinder in der Schule, Kita oder bei den Großeltern sind. Er schätzt sich glücklich, dass seine Schwiegereltern nur vier Minuten Autofahrt entfernt wohnen. „Wir haben eine sehr enge Beziehung. Sie waren und sind einfach immer da. Sie haben mich und die Jungs gerettet“, sagt er.

Gegenwart

Seit ein paar Monaten hat Eric eine Freundin. Über die sozialen Medien haben sie sich kennengelernt. Sie wohnt bei Tübingen, er am Bodensee. Beide verbindet die Liebe zum Sport. Zu seinem ersten fünf Kilometer Lauf hat sie ihn angemeldet und so die Laufleidenschaft bei Eric entfacht. Wenn er laufen geht, begleitet sie ihn mit dem Rad, sein Tempo ist auch für die passionierte Volleyballspielerin zu schnell. Trotz der Entfernung, sehen sie sich regelmäßig. Die Trauer um seine Frau sieht er unabhängig von der neuen Beziehung: „Die zwei Sachen haben wenig miteinander zu tun. Es gibt immer noch Tage, an denen ich einfach vom Gedanken umgehauen werde, wie schrecklich es ist, dass sie mit 39 starb und ihre Kinder nicht aufwachsen sah. Es ist herzzerreißend. Nur weil ich eine Freundin habe, macht das nicht die Trauer einfach“, sagt er. “Nur weil du jemanden Neuen in deinem Leben hast, fühlst du dich nicht weniger beschissen beim Gedanken an diese schreckliche Sache.“

Über seine Trauer ist er nicht hinweg, es ist ein Prozess. In Friedrichshafen, wo er mit seiner Frau lebte, wird er wohl nicht für immer bleiben. „All diese Orte sind Erinnerungen und diese Erinnerungen haben blaue Flecken.”