Hilfe an Gleis 1
Depressive, Drogenabhängige, gestrandete Fahrgäste – für sie alle ist Sigrid Blumbach von der Bahnhofsmission Bonn da. Und das obwohl diese Arbeit auch gefährlich sein kann. Sie weiß genau, warum sie trotzdem gerne hilft.
Reisende laufen mit hastigen Schritten zu ihren Bahnsteigen. Bunte Koffer rollen über den Boden. Über den Köpfen der Menschen kündigt eine knarzende Lautsprecherstimme den einfahrenden Zug an. Mitten im Getümmel steht Sigrid Blumbach in ihrer quietschblauen Uniform. Die 74-Jährige verteilt Äpfel an die wartenden Menschen. Ein Junge, der in ihren Korb greifen darf, strahlt sie dankbar an. Ansonsten sind es hauptsächlich Obdachlose, die sie versorgt. Heute bekommt auch eine Gruppe Fußballfans Äpfel. Ein anderes Mal habe Blumbach den Fans des 1. FC Köln zu den Äpfeln auch Taschentücher gegeben – zum Tränen abwischen, wie sie erzählt, falls der Verein bei dem anstehenden Spiel verlieren würde.
Trauernde Fußballfans sind für Sigrid Blumbach aber eines der kleineren Probleme. Sie möchte den Menschen helfen, „die es nicht so leicht haben“. Dazu hat sie sich nach ihrem Eintritt in den Ruhestand entschlossen. Die ehemalige Lehrerin ist seit 2019 ehrenamtlich für die Bahnhofsmission in Bonn aktiv. Die ökumenische Einrichtung von Diakonie und Caritas hilft den Menschen am Bahnhof beim Umsteigen, aber auch bei deutlich drastischeren Problemen. So seien laut Blumbach auch Arbeitslose, Drogenabhängige oder psychisch erkrankte Menschen unter den Gästen in der Bahnhofsmission am Gleis 1. Die Tür des kleinen Häuschens, das sich dort befindet, steht allen offen.
Im Inneren des Häuschens ist es warm und riecht nach Kaffee. An vereinzelten Tischen sitzen Besucher. Manche unterhalten sich leise, andere sitzen für sich und blättern in Büchern, die aus einem kleinen Schrank stammen. Ein etwas älterer Mann betritt den Raum und wird von Blumbach und ihrem Team gleich mit einem Lächeln begrüßt und mit Kaffee versorgt. „Manche kommen so herein“, sagt Blumbach und zieht mit ihren Fingern die eigenen Mundwinkel nach unten, „und gehen danach wieder mit einem Lächeln raus.“ Das sei für sie das Schönste an ihrem Ehrenamt.
Doch längst nicht alle Fälle, mit denen sie bei der Arbeit konfrontiert ist, sind so schnell und einfach zu lösen. Die Begegnung mit einer jungen Frau etwa lässt Blumbach bis heute nicht ganz los. Diese sei mit dem Zug in Richtung Süden unterwegs und auf der Flucht gewesen – vor ihrer eigenen Familie, die sie zwangsverheiraten wollte. „Man hat der Frau angesehen: Sie hat keine entspannte Reise vor sich“, erinnert sich Blumbach. Gemeinsam mit der Bundespolizei habe sie die junge Frau dann bis zum sicheren Einstieg in den Zug begleitet.
Auch ein obdachloser Mann ist Blumbach tief in Erinnerung geblieben. Mit einer Wolldecke und Lumpen bekleidet, barfuß, und mit blutigen Beinen habe der Mann am Bahnhof gestanden. Nur kurz ließ er sich vom Rettungsdienst verarzten, dann sei er beim Anblick der Polizei doch ausgetickt. „Er hat gerufen, dass er bei lebendigem Leibe verfaulen wolle“, erzählt Blumbach mit weit aufgerissenen Augen. Dieses Erlebnis habe sie danach noch lange beschäftigt.
Besonders im Umgang mit Menschen wie diesem Mann oder Menschen unter Alkoholeinfluss gehen die Freiwilligen der Bahnhofsmission auch ein Sicherheitsrisiko für sich selbst ein. „Hin und wieder gibt es schon Zoff“, sagt Blumbach. Deswegen seien sie in einer Schicht immer mindestens zu zweit unterwegs. Trotz der Gefahr übt Blumbach ihr Ehrenamt sehr gerne aus. Für sie überwiege die Nächstenliebe die Risiken. Ihr christlicher Leitspruch lautet: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Vor dem Häuschen am Gleis 1 sammeln sich Blumbach und ihre Kollegen. Sie wollen einen kleinen Gottesdienst feiern. „Heute ist Bahnhofsmissionstag“, sagt Blumbach. Neugierige Fahrgäste kommen zu den Freiwilligen dazu. Gemeinsam singen sie an gegen die Durchsagen am Bahnsteig und die vorbeifahrenden Züge: „Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand“. Am Gleis gegenüber klatscht eine Frau freudig Beifall. Kurz darauf fährt der Zug ab.