GEFÜHLT
„Die Literatur hat mir in schwierigen Zeiten geholfen“
In einem Gespräch mit der Autorin Radka Denemarková gewinnen wir Einblicke in ihre Leben, ihre Wurzeln in der Kunst und die Herausforderungen, die sie als alleinerziehende Mutter und Schriftstellerin gemeistert hat.
Im Internet gibt es nicht viele persönliche Informationen über Sie. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?
Radka Denemarková: Ich finde das nicht wichtig. Was zählt, ist meine Arbeit. Bei jedem Schriftsteller spiegelt sich auch sein Leben in seinen Büchern wider. Ich schreibe meine Biografie auf meine Weise, auch wenn ich keine Autobiografie geschrieben habe. Mein Leben ist selbstverständlich literarisch in meinen Romanen verarbeitet. Das Wichtigste ist, dass ich meine Unabhängigkeit lebe. Ich bin alleinerziehende Mutter und habe einen Sohn und eine Tochter. Meine Kinder und meine Unabhängigkeit sind das Wichtigste in meinem persönlichen Leben.
Wie ist Ihre Liebe zur Literatur entstanden?
Denemarková: Es war Liebe zur Kunst. Als Kind und Jugendliche habe ich die Welt ernster betrachtet als die Erwachsenen. Sie haben oft nicht verstanden, dass auch Kinder und Jugendliche tiefe Gefühle und Gedanken haben können. Die Literatur hat mir in schwierigen Zeiten sehr geholfen. Wenn ich die besten Bücher der Weltliteratur gelesen habe, fühlte ich mich verstanden. Ich habe immer geschrieben, ohne zu wissen, ob ich das Talent dazu hatte. Wir wählen das Talent, nicht das Talent uns.
Wie kamen Sie an die Bücher?
Denemarková: Es war immer eine persönliche Entdeckung. Ich hatte das Glück, dass mein Vater Lehrer war und wir zu Hause eine gute Bibliothek hatten. Nach dem Prager Frühling im Jahr 1968 wurden in der damaligen Tschechoslowakei Bücher zensiert und er hat damals viele diese Bücher gerettet. Ich konnte die lesen, die mich interessierten, auch wenn ich manche in meinem jungen Alter noch nicht ganz verstanden habe. Das hat meine Weltsicht erweitert und mir gezeigt, dass es verschiedene Lebensweisen und Denkweisen gibt.
Welcher Autor oder Autorin war in dieser Zeit Ihr Favorit? Gab es ein Lieblingsbuch oder Vorbilder?
Denemarková: Als Kind war Astrid Lindgren eindeutig mein Favorit. Pippi Langstrumpf war ein sehr mutiges Mädchen, das die Freiheit der Erwachsenen hatte und die anderen Kinder in der Umgebung damit schockierte. Sie war wild, aber auf eine positive Art, und ich habe mich mit ihr identifiziert.
Hatte Ihre Mutter auch mit Literatur zu tun? Und haben Sie Geschwister?
Denemarková: Meine Mutter ist Köchin und wir haben ihretwegen viel gutes gegessen. Ich habe einen Bruder, der drei Jahre jünger ist als ich. Er ist ganz anders orientiert. Er arbeitet in einer Werbeagentur und ist sehr geschäftlich ausgerichtet.
Sind sie in Prag aufgewachsen? Ich habe gesehen, dass Prag einen großen Einfluss auf Ihre Bücher hat.
Denemarková: Ich wurde in Kutná Hora geboren, was eine wunderschöne Altstadt ist. Ich kam nach Prag, um an der Universität zu studieren, und habe mich sofort in die Stadt verliebt. Prag hat definitiv Einfluss auf meine Arbeit gehabt. Wenn es um Kultur, Kunst und Menschen geht, fühle ich mich in europäischen Großstädten immer wohl. Aber Prag hatte eine besondere Atmosphäre und Mentalität.
Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?
Denemarková: Ich habe Deutsch gelernt, weil mein Vater wollte, dass mein Bruder und ich Englisch und Deutsch lernen. Wir hatten eine Privatlehrerin. Meine Deutschlehrerin habe ich sehr gemocht. Sie war klug, humorvoll und warmherzig, und wir waren bis zu ihrem Tod befreundet. Das hat meine Liebe zur deutschen Sprache und zur deutschen Philosophie geprägt. Deshalb habe ich Germanistik studiert.
Sie haben viele Biografien geschrieben. Wie Zum Beispiel über den Filmregisseur Evald Schorm „Sich selbst zum Feind“ (1998). Warum nehmen Biografien einen so großen Teil Ihrer Arbeit ein?
Denemarková: Als alleinerziehende Mutter musste ich viele verschiedene Arbeiten annehmen, um meine Kinder zu ernähren. Aber darüber hinaus habe ich immer Persönlichkeiten geschätzt, die andere Werte in der Kunst und im Leben hatten. Ich wollte zeigen, dass es wichtig ist, für die richtige Kunst und die eigenen Überzeugungen zu kämpfen.
Was war die größte Herausforderung für Sie, als Sie versuchten, sich einen Namen in der Literaturwelt zu machen?
Denemarková: Im Nachhinein betrachtet war die größte Herausforderung wahrscheinlich, dass ich nur nachts arbeiten konnte, wenn die Kinder schliefen. Ich hatte nur eine begrenzte Zeit, um an meiner Aufgaben zu erarbeiten. Tagsüber musste ich meine Kinder versorgen und unterrichten. Wenn ich müde wurde, nahm ich eine eiskalte Dusche und schrieb dann bis drei oder vier Uhr morgens. Dann begann der Tag von vorne mit Frühstück, Kinderbetreuung und Schule. Ich hatte keine Zeit für Urlaub und ich trenne nicht zwischen Beruf und Privatleben. Das war mir wichtig, und es hat mehr Vorteile als Nachteile gebracht.
Können Sie das näher erklären?
Denemarková: Es hat mir geholfen, authentisch zu bleiben und meine Überzeugungen in der Kunst und im Leben zu verteidigen. Ich hatte keine Zeit, eine Fassade aufrechtzuerhalten oder vorzuspielen. Das hat mir die Freiheit gegeben, ich selbst zu sein, und das bedeutet viel für mich.
Sie haben gesagt, dass Sie oft wenig geschlafen haben. Ich habe bemerkt, dass Sie über mentale Gesundheit geschrieben haben, einschließlich eines Buches über Depressionen und eines Theaterstücks über Schlafstörungen. Haben Sie das getan, um …
Denemarková: (lacht) Ja, ich weiß, was Sie fragen wollen und ja das stimmt. Aber wissen Sie, ich habe alles in meinen Romanen literarisch verarbeitet, ohne dass es notwendig ist, dass die Leute wissen, dass es um mich geht. Meine Romane sind stilisiert, aber sie sind persönlich. Beim Schreiben nutzen wir nur die Sprache als Werkzeug, um das Selbst und die Essenz der Probleme herauszuarbeiten. Wenn es literarisch verarbeitet ist, kann es viele Menschen ansprechen.
Sie gehen oft an harte Themen heran, wie Krieg, Antisemitimus oder Patriarchat. Wie gehen Sie damit um? Haben Sie bestimmte Techniken oder Rituale, um sich zu erholen?
Denemarková: Ich habe eine schnelle Regenerationsfähigkeit, wie meine Kinder sagen. Aber ich versuche, mich von toxischen Menschen fernzuhalten. Ich sage oft, dass toxische Menschen in meinen inneren Garten nicht hineinpassen. Ich habe das Glück, gute Freunde zu haben, mit denen ich reden und Zeit verbringen kann. Ich fühle mich oft innerlich erschöpft, wenn ich einen Roman beende. Aber ich finde meine Regeneration in der Natur, beim Spazierengehen oder beim Lesen.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Ihre Werke veröffentlichen und darüber sprechen?
Denemarková: Das ist eine interessante Frage. Ich schreibe immer so, wie ich es schreiben möchte, und dann überlasse ich die Deutung der Welt. Jeder interpretiert es auf seine Weise, und das ist legitim. Es ist immer aufregend zu sehen, wie die Leser reagieren und welche Richtung die Interpretationen nehmen. Mein Verleger sagt immer, ich beschreibe etwas, was in der Luft liegt, bevor es passiert. Die Sensibilität der Kunst zeigt sich manchmal auf diese Weise.
Ihr Buch „Stunden aus Blei“ wurde für den Nobelpreis nominiert und hat viele Preise gewonnen, In Tschechien ist es Buch des Jahres und ist auch in Deutschland sehr erfolgreich. Denken Sie, dass Ihr Buch dazu beigetragen hat, das Bewusstsein für Menschenrechte und die Diktatur, insbesondere in Bezug auf China, zu schärfen?
Denemarková: In meinem Buch habe ich eine Perspektive dargelegt, die mir wichtig war. Es war absolut radikal und kompromisslos. Das Buch hat mich selbst überrascht, da es nicht einfach war. Beim Schreiben kann dir niemals jemand sagen, was funktioniert und was nicht. Ich meine nicht die Massenwaren Bücher, sondern Kunst. In der Literatur kann man Dinge aus psychologischer Perspektive erklären. Auf diese Weise gibt es keinen Unterschied zwischen Trump und Xi Jinping. Trump wäre überglücklich, eine solche Totalität zu haben. Das ist der Traum vieler Populisten, und das wiederholt sich immer wieder. Aber die Menschen verstehen diese Gefahr nicht. Deshalb ist es wichtig, über dieses Thema zu sprechen.
Was sind Ihre Pläne für Ihre nächsten Bücher? Welche sozialen Probleme beschäftigen Sie gerade, und welche Spannungen sehen Sie in der Luft?
Denemarková: Ich habe gerade einen Roman abgeschlossen. Ursprünglich hatte ich versucht, zwei Romane gleichzeitig zu schreiben, aber das war zu viel, da sie unterschiedliche Themen und Sprachen hatten. Einer der Romane spielt im 19. Jahrhundert. Ich habe diesen Zeitraum gewählt, denn da hat all das angefangen, was zu unseren heutigen Katastrophen geführt hat. Ich habe es wieder kompromisslos und frech geschrieben. Der andere handelt von Dissidenten, sowohl in der Vergangenheit als auch heute und ihre Bedeutung in Osteuropa. Ich möchte zeigen, wie einige politische Führer, wie Viktor Orban in Ungarn oder Lech Kaczynski in Polen, die heute gegen die Demokratie arbeiten, sich selbst als Dissidenten sahen. Das sind wichtige Diskussionen, an denen vor allem ich als Frau teilnehmen möchte.
Zum Abschluss habe ich noch eine kurze Frage. Wie würden Sie sich selbst in einem Wort beschreiben?
Denemarková: Humanismus.