Fluch(t)? – Oder warum Heimweh nie vergeht

Fluch(t)? – Oder warum Heimweh nie vergeht

Raid Usta floh vor 25 Jahren aus dem Irak nach Köln. Heute ist er Besitzer des Barber Shops „Kestir gitsin…“ – doch Heimweh ist der Fluch der Flucht. Was bedeutet Heimat für ihn?

Die Ladentür bimmelt, um einen weiteren Kunden im Barber Shop „Kestir gitsin…“ im Kölner Stadtteil Mülheim zu begrüßen. Drei Männer rasieren, frisieren und drapieren unter den Augen ihres „Ustas“, also Meisters, die noch formlosen Haare der Herren in bordeauxfarbenen Friseurumhängen. Der polierte Marmorboden ist schon bedeckt von einem Teppich dunkler Haare. Und auch die überall verstreuten bauchigen Teegläser deuten auf die morgendliche Kundschaft hin. Ein Geruch von starkem türkischen Çay erfüllt den kleinen Laden in der Keupstraße 39.

Mitten in der Fülle von rauen und feinen Borstenhaarpinseln, blauen und grünen Döschen und einem Potpourri an After Shave tänzelt der Ladenbesitzer Raid – von allen einfach „Raid Usta“ genannt – um einen der weichen Ledersitze herum. Mit einer Hand führt der Entrepreneur locker den surrenden Rasierer über den Kopf seines Stammkunden Ali. Im Hintergrund läuft ein türkischer Radiosender. Der Mitte 40-Jährige brummt in einem tiefen Bass zum Takt der Musik.

Raid singt in Originalsprache mit, plaudert im fliegenden Wechsel auf deutsch und türkisch. Allerdings ist er Iraker, nicht Türke wie der Großteil seiner Kunden. Er ist mit „17 oder 18 Jahren“ aus Erbil, der Hauptstadt der jetzt autonomen Region Kurdistan, geflohen. An das genaue Alter kann er sich nicht mehr erinnern. „Wegen Krieg“, erklärt er kurz angebunden mit wehmütiger Miene. 

In der Tat gibt es nur wenige Länder, die so von Kämpfen ausgemergelt wurden wie der Irak. Dem ersten und zweiten Golfkrieg und dem blutigen Irakkrieg folgte schon bald ein Krieg gegen den IS. Diese Zeit forderte viele Tote und trieb vor allem junge Menschen in die Flucht. Raid kam über die Türkei nach Deutschland. Ein Bild vom Leanderturm thront als Hommage an seine zwei Jahre in Istanbul an der Wand. Die Türkei als Zwischenstation, das sei Standard. Türkisches Brot müsse man essen, witzelt der Barber, sonst könne man nichts erreichen. Mittlerweile hat Raid auch die deutsche Staatsbürgerschaft, mehrere Angestellte und treue Kunden in der Keupstraße. Trotzdem bezeichnet er sein Leben in Deutschland nicht als Segen.

Die Augen leicht zusammengekniffen, greift Raid zur Sprühflasche, vertieft in sein Handwerk. Dabei schwelgt er in Erinnerungen an den Friseurladen seines Onkels, dem Schauplatz seiner ersten wackeligen Schritte im Beruf. Männern zu einem frischen Look zu verhelfen, liege ihnen allen im Blut, liege in der Familie. „Familie ist das Wichtigste“, bekundet der Barber, er vermisse sie jeden Tag. Als jüngstes Kind seiner Eltern versucht er, übers Telefon regelmäßigen Kontakt in die Heimat zu halten. Zwischen dem Schnipp-Schnapp der Schere seufzt er, dass Deutschland nie der Plan gewesen sei. Nun ist er schon seit 23 Jahren hier. Sein Shop feiert dieses Jahr das erste zweistellige Jubiläum. Eigentlich ein Anlass zum Feiern und doch verfinstert sich Raids sonst so lebhaftes Gesicht. „Jeden Tag bete ich zu Gott“, so der Moslem. „Ich will nicht hier sterben“.

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