Fiete lässt los
Nach 35 Jahren verlässt der 78-jährige Friedrich Cardinal die älteste Kleiderkammer in Hamburg. Er ist einer, der anderen immer geholfen hat. Jetzt muss er sich um sich selbst kümmern.
In einem kleinen Keller in Eidelstedt neben einem Altersheim, nahm Friedrich Cardinal jeden Dienstag und Donnerstag lange Schlangen von Bedürftigen in Empfang, um sie mit Kleidung zu versorgen. Das machte er nicht alleine, sondern immer mit einem Team aus der nahegelegenen Kirchengemeinde. Der Raum war voll von Menschen, lauten Geräuschen und Geschichten. Sobald die Menschen den Laden betraten, begann die Suche nach Schuhen, Blusen, Jacken, Socken oder auch manchmal Mitbringseln wie kleinen Sparschweinen. Alles war sorgfältig und ordentlich nach Farbe und Zustand kategorisiert. Hier hat Friedrich Cardinal, den alle nur Fiete nennen, erlebt, wie Leute sich von den letzten Erinnerungen an ihre Lebenspartner trennten, hier half er einem Mädchen das perfekte Outfit für ihre Hochzeit zusammenzustellen – nur aus Altkleidern. Sie hat ihm das Bild von ihrer Hochzeit geschickt und ihn zum Weinen gebracht. Die Menschen verließen diesen Ort entweder voller Freude oder bitter weinend. Cardinal erlebte 35 Jahre Elend und Freude zugleich. Jetzt verliert Eidelstedts Kleiderkammer einen ihrer größten Wohltäter nach über 35 Jahren, denn Cardinal zieht sich nun mit 78 Jahren aus gesundheitlichen Gründen zurück.
“Diese Kleiderkammer ist wie ein Kind von mir”, sagt Cardinal. “Ich habe ein Kind erwachsen werden lassen. Ich kann ihm nicht mehr viel helfen.” Gerade jetzt, wo seine Hilfe wegen der Welle an ukrainischen Flüchtlingen vielleicht dringlich gebraucht wird, muss er gehen, denn sein Körper macht nicht mehr mit. „Er darf nicht mehr darüber nachdenken”, sagt seine Frau Elisabeth. Fiete bemüht sich, seine Tränen zurückzuhalten als sie das sagt. „Man muss meinen Werdegang sehen, dann versteht man vielleicht, warum ich so geworden bin”, sagt Fiete.
Friedrich Cardenal zog mit seiner Familie nach Eidelstedt, als es noch kleines Dorf war. Sein Vater ist im Krieg krank geworden und konnte nie wieder arbeiten. Sie waren lange auf soziale Hilfe angewiesen und er musste zwei Jahre lang mit Klamotten seiner großen Schwestern zur Schule gehen. In der Schule hat er seinen Platz nicht gefunden, dafür aber in der Kirchengemeinde. Später hat er seinen Meister als Maurer gemacht.
Beginn der Kleiderkammer
Es ist Mai 1987, als größere Flüchtlingswellen aus der Sowjetunion auch nach Hamburg kommen. Die Gemeinde sammelt Kleidung und schon bald häufen sie sich. „wir haben gesehn, dass da ein Problem gibt und die kleidungen ungerecht verteilt werden, keiner soll ohne Klamotten bleiben”, sagte Friedrich ernst. Die Gemeinde hat ein logistisches Problem, schließlich muss der Berg an Kleidern auch die Bedürftigen möglichst effizient und reibungslos erreichen. Sie gründen die Kleiderkammer unweit der Gemeinde und Friedrich Cardinal wird zum Vorstand ernannt.
Für Ehrenamt opfern
Friedrich ist sich der Schwierigkeiten bewusst, schließlich bleibt dieses Ehrenamt trotz veränderter Zeiten stets mit der Konfrontation mit menschlichem Leid verbunden. Dennoch bleibt Friedrich 35 Jahre lang dabei. „Ich bin dort gefragt und ich muss doch helfen”, sagt er vorsichtig, während seine Frau einen kritischen Blick auf ihn wirft, dann aber lacht. „Aber unsere Familie musste darunter leiden“, sagte sie in einem halb vorwurfsvollen, halb belustigten Ton. „Wir mussten viele Geburtstage absagen und konnten nirgendwohin wegfahren”, fährt sie fort.
Friedrich Cardinal sieht den Sinn seines Lebens darin, anderen zu helfen, ein Lächeln auf ihre Gesichter zu zaubern, aber auch ihr Leid und ihre Schicksale ernst zu nehmen und zuzuhören. Es kommen über Jahrzehnte hinweg Menschen von überall zu ihm, um sich von ihren Kleidungsstücken zu trennen. Diese werden sorgfältig kontrolliert und verpackt, während die Kleidung mit minderer Qualität an ein externes Unternehmen weitergeleitet wird . So werden wöchentlich, immer dienstags, ungefähr 30 Säcke mit Altkleidern gefüllt. Der wesentliche Unterschied kleiner Kleiderkammern wie dieser zu großen Hilfsorganisationen wie der Caritas, liegt in diesem persönlichen Handwerk und der Nähe des Ehrenämtlers zum Bedürftigen.
Fiete: Arbeit mit Herz und Seele
Jetzt hat Friedrich Cardinal insgesamt 60 Jahre Ehrenamt hinter sich, über die Hälfte der Zeit gehörte die Kleiderkammer zu seinem Leben. Im März wurde sie von einem neuen Vorstand übernommen, Diakon Uwe Loose. “Was Fiete ausgemacht hat ist einfach, wie er mit Herz und Seele hierbei war, was er hier aufgebaut hat.” Er habe die Kleiderkammer durch seine Art, Freundlichkeit und Hifsbereitschaft geprägt.
Elisabeth und Friedrich Cardinal haben jetzt die Chance, ihren Hobbys nachzugehen und ihren Lebensabend zu genießen. Elisabeth macht seit zwölf Jahren Fotocollagen und jetzt, wo Friedrich da ist, wird er ihr wohl helfen, Motive für Gemeindefeste, Geburtstage oder Naturfotos zu finden. Eines ihrer Lieblingsmotive sind übrigens Vögel, die sie immer wieder in ihrem Garten zu sehen bekommen und füttern. „Jetzt habe ich Zeit, zur Ruhe zu kommen und mich auf meine Gesundheit und meine Frau zu konzentrieren“, sagt Fiete, während Elisabeth ihn anlächelt. Sie schauen durch das Fenster und sehen einen Blauhäher, der sie kurz besucht.