Fast unsichtbar

Schätzungsweise 50.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße, mehr als 600.000 sind wohnungslos. Andreas ist einer von ihnen. Jeden Tag sitzt er auf seinem Stammplatz vor einem Biomarkt in Bonn und bettelt. Wer ist der Mann mit dem Zottelbart und der Geldbüchse?

Klack, klack, klack. Ein paar Münzen fallen in die rote Büchse hinein. Ein Paar Turnschuhe eilt vorbei, von hier unten kann Andreas nur Schuhe sehen. Er trägt einen langen, brauen Bart mit grauen Strähnen, eine schwarze Jacke und eine blaue Häkelmütze. Mit geröteten und müden Augen hebt er seine Büchse auf und zählt. Fünf Cent, 20 Cent, 50 Cent. Samstagmittag in der Bonner Innenstadt, viele Wolken, kaum Sonne. Menschen hasten vorbei. Andreas bleibt sitzen. Seit eineinhalb Jahren schon hockt er hier, an der grauen Wand des Biomarktes direkt vor dem Hauptbahnhof, immer an derselben Stelle, jeden Tag, bei jedem Wetter. „Ich sehe das als meinen Arbeitstag“, sagt Andreas. 

Der 50-Jährige ist seit 2022 obdachlos. Wie die meisten Menschen ohne Unterkunft hat auch Andreas nicht damit gerechnet, dass er einmal auf der Straße leben würde. „Ich hatte Kinder, eine Frau, einen ganz normalen Job“, sagt er und zupft nachdenklich an seinem Bart. Er sei Betreuungshelfer in einem Verein für Behindertensport gewesen. Dort half er Menschen mit körperlichen Einschränkungen beim Treppensteigen, trug ihre Rollstühle und fuhr sie darin herum. „Dann hat sich mein Sohn umgebracht“, sagt Andreas mit brüchiger Stimme. Nach dem Suizid seines Sohnes ging die Beziehung zu seiner Frau in die Brüche, er verlor seinen Job und seine Wohnung, wurde kriminell. So erzählt Andreas es heute. „Ich konnte das alles nicht mehr verkraften“, sagt er. Er habe damals angefangen, Drogen zu verkaufen, sei oft in Einbrüche verwickelt gewesen. „Abgesehen von Kapitaldelikten wie sexuellen Übergriffe, schwerer Körperverletzung oder Totschlag, war alles dabei“, sagt er, „Drogen, Alkohol und Knast – das war bei mir Standardprogramm.“ Insgesamt zwölf Jahre saß er im Gefängnis.

Heute, sagt Andreas, sei er seit zehn Jahren straffrei, aber den Weg zurück ins normale Leben habe er trotzdem nicht gefunden. Sein Alltag ist das hier: die Straße vor dem Biomarkt, die rote Geldbüchse und das Betteln. Andreas grüßt fleißig, um bemerkt zu werden. Nickend sagt er „Hallo“ oder „Guten Tag“ zu  den Menschen, die an ihm vorbei eilen. Erstaunte, überforderte, zum Teil verachtende Blicke gleiten an ihm entlang. Eine ältere Dame mit Einkaufstaschen bleibt stehen, grüßt zurück und kramt in ihrer Geldbörse. „Hey, danke sehr!“, sagt Andreas. Immer wieder nähern sich Menschen und werfen ein paar Münzen in seine Büchse. 

Das Leben auf der Straße habe ihn gelehrt, mit Menschen umzugehen und sie nicht direkt zu verurteilen. Gute und schlechte Erfahrungen habe er schon gemacht. „Die Straße hat mich selbstsicher gemacht, trotzdem begegnen mir nicht nur gute Menschen“, sagt Andreas. Er höre ständig Beleidigungen, Anspielungen, sogar Gewaltdrohungen.  „Beim nächsten Mal grüße ich trotzdem freundlich. Für mich sind Respekt und Höflichkeit das A und O“, sagt er. 

Immer wieder blickt er auf die überlaufene Straße vor ihm, um keinen Passanten zu verpassen. Es wirkt, als werde er zwar gesehen, aber nur selten bemerkt. Kaum jemand schenkt Menschen wie Andreas noch Beachtung. Die vielen Obdachlosen sind längst Teil unseres Alltags geworden. Er sei aus dem Stadtbild gar nicht mehr wegzudenken, zitiert Andreas eine Passantin, die ihn vor Kurzem angesprochen haben soll. Andreas ist nur einer von vielen, die in Deutschland unfreiwillig auf der Straße leben. 2022 gab es hierzulande nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe etwa 50.000 Obdachlose und mehr als 607.000 Wohnungslose.  Die Gründe, warum jemand auf der Straße lebt, sind vielfältig: Arbeitslosigkeit, Schicksalsschläge, Kriminalität, Krankheit, Unfall und Sucht. 

Kurz nach 14 Uhr sitzt Andreas immer noch auf seinem Rucksack. Die Straße ist durchnässt, die Menschen gucken, staunen und laufen weiter. Am Anfang fand er es peinlich, auf der Straße zu sitzen und zu betteln, die Hand auszustrecken oder die vorbeilaufenden Menschen zu grüßen. „Ich hatte keine Lust mehr auf Kriminalität und habe mich entschlossen, mich hinzusetzen“, sagt Andreas, „ich habe versprochen, ich gehe nicht mehr in Haft.“ Ein Mann mittleren Alters läuft mit einem schnellen Schritt auf Andreas zu, nickt, streckt die Hand aus und wirft ein paar Münzen in die Büchse. Andreas hebt die Büchse und guckt hinein. „Die Leute können nichts für meine Misere, ich bin dankbar für jede kleine Spende und einen Milchkaffee“, sagt Andreas und zählt das Geld.

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