Eigentlich war es weniger als Null.

Seit 40 Jahren schneidet Nedal Najem Haare – zuerst in Syrien, seit 2015 in Berlin. Seinen Friseursalon in Damaskus musste er aufgeben. Hier in Deutschland kämpft er erneut für seinen Lebenstraum.

Zum Schluss kommt der Feinschliff: Der 58-Jährige Nedal Najem schaltet die Haarschneidemaschine an, um die Seiten zu trimmen. Ein leises Summen schallt durch den kleinen Laden. Die Haare des Kunden gleiten zu Boden. Er nimmt einen Schluck von seinem Schwarztee, dessen würziger Geruch in der Luft liegt. Dann lächelt er sein Spiegelbild an und gibt fünf Euro Trinkgeld. „Das ist mein Stammkunde“, sagt Najem. So wie die meisten, die zu mir kommen.“

Vor zwei Jahren eröffnete er den Friseursalon in Berlin-Schöneberg: Nedal Coiffeur. Friseur sei er schon seit über 40 Jahren, erzählt er, die Ausbildung habe er in den 80er Jahren in Damaskus gemacht. „Hier habe ich einem Freund vor seiner Hochzeit die Haare geschnitten“, erzählt er und zeigt ein eingescanntes Foto auf seinem Handy. „Man sieht die Ähnlichkeit noch, oder?“

Auf der verblichenen Aufnahme aus 1990 trägt Najem einen dichten, schwarzen Fassonschnitt. Heute hat er eine Halbglatze. Doch man erkennt den konzentrierten Gesichtsausdruck, mit dem er sich über den Kunden beugt. Auf dem Foto föhnt er im Badezimmer seinem Freund das Haar. Najem bereitete ihn damals auf den wohl wichtigsten Tag seines Lebens vor, erzählt er: seine Hochzeit. 

Der Freund hat ihm das Foto vor ein paar Jahren geschickt. Najem hat nicht gedacht, dass er es jemals wieder sieht. Als er 2014 wegen des Bürgerkriegs Syrien verließ, konnte er nur das Nötigste mitnehmen, erzählt er. Er habe ohnehin geglaubt, dass er bald in seine Heimat zurückkehren würde. Doch sein Zuhause in Damaskus habe er nie wieder gesehen – und auch nicht den Friseursalon, den er dort geführt hat.

Er sei über die Türkei geflüchtet, erzählt er: eine Reise von über 80 Tagen. Im November 2014 kam Najem in Deutschland an, da war er schon Ende Vierzig. Es sei ihm schwer gefallen, die neue Sprache zu lernen. Trotzdem habe er schon nach einem Jahr begonnen, als Angestellter in einem Friseursalon zu arbeiten. „Ich habe von Null angefangen“, sagt er. „Nein, eigentlich war es weniger als Null.“

Nach acht Jahren konnte er wieder einen eigenen Salon eröffnen, diesmal nicht in Damaskus, sondern in Berlin. Als Angestellter habe er mehr verdient, sagt er und zeigt die Kontoausdrucke. Die Abbuchung für die Monatsmiete: über 1000 Euro. Der Männerhaarschnitt bei Coiffeur kostet 25 Euro, die Frauen zahlen 30. „Man muss dafür kämpfen, was man erreichen will“, sagt Najem. Sein Handy klingelt: eine Sprachnachricht. Ein Stammkunde will einen Termin buchen.

Die JONA ist das Journalismus-Stipendium

Wir bilden Euch zu Journalisten aus – und das neben dem Studium! Bewirb Dich um ein Stipendium der Journalistischen Nachwuchsförderung der KAS. Derzeit fördern wir etwa 100 Stipendiatinnen und Stipendiaten aus ganz Deutschland. Diese können an tollen Journalismus-Seminaren teilnehmen und werden zusätzlich sogar finanziell gefördert. Infos zur Bewerbung findest Du auf unserer Seite und auf Instagram.

Mehr erfahren