AUFGENOMMEN

Vom Helfen und Helfen lassen

Kein Land in der EU hat pro Kopf so viele ukrainische Geflüchtete aufgenommen wie Tschechien. In Prag versucht die Young Caritas den Menschen zu helfen, die in ihrer Heimat alles zurücklassen mussten und nun von vorne anfangen. Ein Besuch in einer Einrichtung, in der Groß und Klein die Unterstützung bekommen sollen, die sie gerade brauchen. 

In Prag fallen schöne Häuser kaum noch auf. Zu viele gibt es hier von ihnen. Das eine ist mit Stuck besetzt, das nächste hat einen Erker. Das Haus in der Prager Altstadt mit der Nummer 790/11 hat beides – erstmal nichts Besonderes. Das Ungewöhnliche wartet im Keller.

Steigt man die Treppen hinab, erwartet einen eine schwere, dunkelblaue Tür. Darauf kleben zwei Sticker: „Hate-free Zone“ steht auf einem pinken Kreis; oben drüber ist das Logo der tschechischen Caritas. Seit September 2022 dienen die Räume dahinter als Gemeindezentrum der Young Caritas für ukrainische Geflüchtete. Das Licht ist karg. Die Fenster sind so weit oben, dass man sie nur öffnen kann, wenn man auf einen Stuhl steigt. Ein Raum strahlt etwas sehr Lebendiges aus: An den Wänden hängen selbstgemalte Bilder. Bunte Turnmatten und Schaumstoffklötze füllen einen Teil des ehemaligen Thai-Chi-Zentrums. Der Nebenraum ist nicht ganz so bunt: weiße Tische, gegenüber ein Lehrerpult, daneben ein Flipchart. Hier finden Tschechisch-Kurse statt. 13 Frauen sitzen an den Tischen, nur drei Plätze sind frei. Eine Parfümwolke hat sich über dem Raum breitgemacht. Der einzige Mann ist ein kleiner Junge, Pavel, vielleicht gerade mal fünf Jahre alt. Er sitzt hinten auf einem Sessel, spielt mit dem Handy seiner Mutter, die schon ihren Block für die neuen Vokabeln bereitgelegt hat. 

Dass der Kurs nur von Frauen besucht wird, ist kein Zufall. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine dürfen ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen. So flüchten viele Frauen allein mit den Kindern an sichere Orte. Vor allem auch nach Tschechien. Knapp 450.000 Geflüchtete leben mittlerweile hier. Kein Land in der EU hat pro Kopf so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Tschechien. Schon vor dem Krieg seien regelmäßig Menschen aus der Ukraine nach Tschechien immigriert. Hier hätten sie mehr Geld verdient als in ihrem Heimatland, erzählt Martina Stehnovà. Sie ist die Freiwilligenkoordinatorin der Young Caritas und seit Beginn des Krieges in Hilfsprojekte involviert. Mit dem Krieg hat der Zulauf nach Tschechien dann neue Dimensionen erreicht, nun kamen und kommen noch immer Menschen, die um ihr Leben fürchten.

Am Bahngleis in Nádraží Vršovice, eine Station vor dem Prager Hauptbahnhof, steht Dana Benediktová, die Sozialarbeiterin des Zentrums. Eine kleine Hand schmiegt sich in ihre, während der Zug einfährt, der sie aus der Stadt in die Natur bringen soll. Die andere kleine Hand hält mit festem Griff einen kleinen Plüschaffen. Es sind Mischas Hände. Der Fünfjährige ist eines von sechs ukrainischen Kindern, das beim Ausflug dabei ist. Dana Benediktová hat den Ausflug organisiert, er gehört zum Sommerferienprogramm des Centers. Ihren Worten kann Mischa gut folgen. Dass sie Tschechisch spricht, scheint kein Problem zu sein. 

Es ist der letzte Ausflug des Caritas-Gemeindezentrums in diesen Sommerferien. Zwei bis fünf Ausflüge haben sie jede Woche gemacht. „Ich mache immer zwei Pläne für einen Ausflug, weil ich nie weiß, wie viele und welche Kinder kommen“, so Dana Benediktová. Wenn nicht gerade Ferien sind, bietet das Zentrum eine Betreuung für die Kinder an. Spielen, Nachhilfe, Workshops. Für Erwachsene gibt es Gesprächsgruppen zum Tschechisch üben und zur Unterstützung beim Schreiben von Lebensläufen und der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse. Doch nicht nur die Integration der Geflüchteten zählt zum Programm des Zentrums. Es stellt auch psychologische Unterstützung zur Verfügung, um die Erlebnisse aus dem Krieg zu verarbeiten. Alle Angebote sind kostenlos. Finanziert wird das Zentrum durch das tschechische Innenministerium, durch die Prager Stadtverwaltung, die ihnen Gelder von Unicef zur Verfügung stellt, und durch die internationalen Caritasverbände. Die Räume werden ihnen von der Stadt bereitgestellt. 

Im Sprachkurs haben sich die Tische gefüllt. Jitka Ondryášová, die Kursleiterin, schreibt „ta halenka“ auf das bereits halbvolle Blatt am Flipchart. Stille macht sich im Raum breit, die schließlich durch ein lautes „Ahhh“ gebrochen wird, als eine der Frauen auf ihr Oberteil zeigt. „Ta halenka“ – die Bluse. Es herrscht eine lockere Stimmung. Wenn eine Frau ein Wort nicht weiß, ruft die andere ihr es auf Russisch oder Ukrainisch zu. Hier sei der Unterricht besonders, findet Jitka Ondryášová. Sie unterrichtet auch in Firmen und an Sprachschulen, seit knapp einem Jahr gibt sie zweimal die Woche Sprachunterricht im Gemeindezentrum. „Die Frauen sind motivierter, man merkt ihnen an, dass sie wirklich Tschechisch lernen wollen.“ Dass sie noch einmal die Schulbank drücken müssen, hätte vor eineinhalb Jahren wohl kaum eine der Frauen erwartet.

Die Nachfrage nach Sprachkursen sei in den vergangenen Monaten im Center enorm gestiegen, so Martina Stehnová. „Wenn wir auf Facebook einen neuen Kurs anbieten, müssen wir den Post nach einer Stunde wieder runternehmen. Dann ist er bereits voll“. Zehn Wochen dauert der Kurs, danach kann ein Fortgeschrittenen-Unterricht besucht werden – wenn man einen der 15 Plätze bekommt. Die Wartelisten sind länger. „Die Bedürfnisse der Menschen haben sich geändert. Es geht nicht mehr um Sachspenden“, erklärt Martina Stehnová. Stattdessen geht es um die Sprache. Die Aussichten auf eine zeitnahe Rückkehr in die Ukraine sind kaum realistisch. Und nur wer Tschechisch beherrscht, hat eine Chance, hier Fuß zu fassen. Für die Kinder bietet die Caritas in der Prager Altstadt keine Sprachkurse an. „Da setzen wir auf Interaktivität“, sagt Martina. Durch die Konversationen im Center und bei Ausflügen sollen die Kinder nebenbei Tschechisch lernen. Dass die Sprachen aus einer Sprachfamilie stammen, ist ein großer Vorteil. 

Zwischen hohen Bäumen, mitten auf einer kleinen Lichtung hat Mischa seinen Plüschaffen zu seinem Rucksack an die Seite gelegt. Die Kinder entdecken viel Neues im Wald. Und immer wieder fällt das Wort „Ukrajina“. „Die Kinder erzählen mir von ihrem Zuhause, von ihren Großeltern und ihren Erinnerungen an Zuhause“, sagt Dana Benediktová. Ab und zu sprechen sie auch mal vom Krieg, doch bei Ausflügen wie diesen geht es vor allem um die schönen Erinnerungen. Nun sollen sie in Tschechien neue Erinnerungen schaffen. 

Für die Erwachsenen starten im September neue Sprachkurse im Gemeindezentrum, zum ersten Mal werden sie zusätzlichen einen Online-Kurs anbieten. Und die Teilnehmendenzahl soll erhöht werden, als Kampf gegen die Warteliste. Bis Dezember haben sie Geld. Bis dahin wird also im untersten Stockwerk des Prager Altbaus noch unterrichtet, gespielt und zugehört. Wie es im neuen Jahr weitergeht, ist aber unklar. Es werden weiterhin Menschen Tschechisch lernen müssen, es werden weiterhin Kinder einen neuen Alltag finden müssen. Doch ob das hier stattfinden kann, das entscheiden nicht die Bedürftigen, auch nicht die Mitarbeiterinnen. Das entscheidet das Geld. 

Info: Die Young Caritas ist eine Plattform der Hilfsorganisation Caritas, die es jungen Menschen ermöglichen will, sich in ihrer Umgebung sozial zu engagieren. Mit Schulungen und Kursen werden sie dabei unterstützt. Im Gemeindezentrum in der Prager Altstadt sind neben den festangestellten Mitarbeiterinnen über 30 ehrenamtliche junge Helfende, die den Betrieb des Geflüchteten-Zentrums am Laufen halten. 

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