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Über die Chance, Kind zu sein

Rund die Hälfte der Roma in Tschechien lebt am sozialen Rand. Die Organisation RomPraha will Kindern und Jugendlichen Zukunftsperspektiven bieten – und setzt dafür auf Freizeitangebote und Bildung. Doch die Probleme der Roma haben tiefe Wurzeln.

Wenn Radek Kousal die Kinder aus der Nachbarschaft betreut, folgen ihm seine zwei jüngsten Enkel auf Schritt und Tritt.

Jedes Wochenende geht Radek Kousal mit einer Kollegin in Cerny Most spazieren – und sucht auf den Straßen nach Kindern und Jugendlichen. Hier, in einem kleinen Park zwischen alten Plattenbauten, findet er sie besonders häufig. „Da sitzen die Kinder dann – 12, 13 oder 14 Jahre alt – und rauchen. Manche probieren Drogen“, erzählt er und zeigt auf eine Steinbank am Wegrand. Auf dem Asphalt davor liegen ein paar Zigarettenstummel verstreut, im Gras dahinter noch mehr. „Dann gehe ich hin und frage: Was macht ihr hier? Kommt doch ins Community Center. Da könnt ihr boxen oder Fußball spielen.“

Radek ist 55 Jahre alt, dreifacher Opa, recht klein mit ein bisschen Bauch. Meistens schaut er ernst und könnte dann mit seinen kurzen, grauen Haaren und dem Stoppelbart fast ein bisschen einschüchternd wirken, wenn da nicht die Lachfalten an seinen Augen wären. Wie seine Frau arbeitet Radek für die Organisation RomPraha, die Angehörige der Roma-Minderheit in Prag unterstützt. Seit knapp einem Jahr betreibt der Verband ein Gemeinschaftszentrum im Stadtviertel Cerny Most und bietet dort alles von Nachhilfeunterricht und Kinderbetreuung bis hin zu Boxtraining und Tanzgruppen an. Die kostenlosen Angebote sollen Roma-Kindern und -Jugendlichen einen sicheren Ort bieten, an dem sie sich entfalten können. Lernen, Freunde finden, einfach mal Spaß haben – als Alternative zur Straße.

Ein Sommercamp als Auffangort

Cerny Most ist die letzte Station auf einer von Prags U-Bahnlinien. 24 Roma-Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren folgen Radek durch das Treppenhaus zum Gleis, dicht hintereinander in losen Zweier- und Dreierreihen. Kichern hallt durch die Bahnhofshalle, ein paar Kinder schauen aufs Handy, die Jüngsten halten Händchen. Als die Bahn einfährt, stellt sich Radek in die Tür. „Auf geht’s, auf geht’s!“, ruft er und scheucht ein Kind nach dem anderen hinein. Als alle sitzen, wischt sich der 55-Jährige mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und atmet tief durch. „Eineinhalb Stunden bis zum Freizeitpark“, sagt er, seufzt – und lacht.

Es ist der vierte Ausflug, den er diese Woche zusammen mit seiner Tochter Anna und einer Kollegin betreut. Kostenlose Tagestrips für Kinder, die sonst in den Sommerferien zuhause rumsitzen, erzählt Radek. Viele ihrer Eltern hätten keinen Job, keine richtige Wohnung, kein Geld. „Sie können sich das sonst nicht leisten. Wir wollen die Kinder glücklich machen.“

Er selbst ist kein Rom, hat aber in eine Roma-Familie eingeheiratet. Seine Frau Juliana engagiert sich für RomPraha, seit die Organisation 2004 gegründet wurde, und alle drei Enkel sind heute dabei. Alle paar Minuten muss er die Kinder in der Bahn ermahnen, wenn sie zu laut werden, aber wenn sie ihm begeistert etwas erzählen, vertiefen sich die Lachfältchen. Als er auf die Kinder zeigt, die in der Schule gut zurechtkommen, klingt er besonders stolz. „Aber viele haben auch Probleme“, sagt er. „Die Kinder brauchen Geld für die Schule, aber die Eltern haben keine Arbeit.“

Verdrängt und ausgegrenzt

Die tschechische Regierung geht davon aus, dass rund 250 000 Roma im Land leben – rund die Hälfte davon an sozial ausgegrenzten Orten. Das ist vor allem ein Erbe der 1990er-Jahre. In der sozialistischen Tschechoslowakei arbeiteten viele von ihnen als ungelernte Arbeiter, weil sich Bildung finanziell kaum lohnte. Als sich die Tschechoslowakei nach 1989 zur Marktwirtschaft wandelte, wurden Staatsunternehmen von privaten Investoren aufgekauft oder mussten dichtmachen. Die Roma waren die ersten, die ihre Jobs verloren – und ihr Zuhause, als staatliche Wohnungen in private Hand wechselten. Einige Kinder in der Nachbarschaft haben Eltern, die selbst keinen Schulabschluss haben, erzählt Radek. Manche verstehen nicht, warum Bildung für ihre Kinder wichtig ist. „Sie brauchen Mama und Papa, aber Mama und Papa sagen: Alles egal.“

Für die Roma-Kinder sind die Ausflüge eine Chance, einfach mal Kind sein zu dürfen.

Der Indoor-Freizeitpark in der Nähe des Prager Flughafens erinnert an eine umfunktionierte Warenhalle. Hoch über den Fahrgeschäften hängen Metallgestelle an der Decke und das Licht ist gedimmt. Unten säumen knapp drei Meter hohe Lampen in Blumenform den Wegrand. Der ganze Park ist voller Figuren aus Biene Maja und Wickie, daneben Autoscooter, eine Achterbahn, ein kleiner Teich mit Paddelbooten. Radeks Gruppe kann kaum stillstehen. Während er versucht, ihnen die Regeln für den Tag klarzumachen, zeigen die meisten schon mit leuchtenden Augen auf das Kettenkarussell mit den riesigen Schmetterlingen und die Achterbahn am anderen Ende der Halle. Sobald Radek fertig ist, rennen die Kinder schneller los, als er hinterherkommen kann.

Radek steigt in keine Achterbahn. Stattdessen versucht er, alle im Blick zu behalten und überall ein bisschen zuzusehen. Als zwei der älteren Mädchen zu einem der Fahrgeschäfte gehen, sich in die roten Plastiksitze fallen lassen und ihm zuwinken, winkt Radek zurück und lächelt. Aber sobald die Sitze nach oben fahren und sich langsam um den Turm drehen, wird sein Gesicht wieder ernst. Er sieht zu, wie das Fahrgeschäft nach unten schnellt und sich kurz vor dem Boden wieder abfängt, während die beiden Romnja kreischen und lachen. Zuhause hätten sie keinen Raum für sich, erzählt Radek. „Ihre Eltern haben eine Sozialwohnung mit nur einem Zimmer.“

Bildung als Ausweg?

Aus einer schlechten Lebenssituation rauszukommen, bleibt für viele Kinder und Jugendliche aus Roma-Familien schwierig. Denn obwohl Roma-Kinder nur rund 3,6 Prozent der Schülerinnen und Schüler in tschechischen Grundschulen ausmachen, liegt ihr Anteil in Sonderklassen bei mehr als einem Fünftel. Diese Sonderklassen sollen Kindern mit geistigen Behinderungen mehr Unterstützung bieten und stellen deshalb oft deutlich niedrigere Anforderungen – gefolgt von schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Bei Beratungssitzungen wird Roma-Kindern im Schnitt zehn Mal häufiger eine leichte psychische Beeinträchtigung diagnostiziert als Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft.

Dazu halten sich die Vorurteile gegen Roma in der Gesellschaft hartnäckig: problematisch, faul, ungebildet – „Roma“ als Synonym für „nicht einstellbar“. Für die vielen verschiedenen Lebenssituationen innerhalb der Minderheit bleibt meist kein Platz. Roma, die gebildet sind, Karriere machen oder sich für ihre Gemeinschaft engagieren, gelten immer noch als Ausnahmen oder nicht mehr als „richtige Roma“.

Das Community Center in Cerny Most soll ein sicherer Raum für Kinder und Erwachsene aus der Nachbarschaft sein.

Auch RomPraha setzt neben den Freizeitangeboten auf Bildung. Als Radek nach dem Ausflug wieder im Gemeinschaftszentrum ankommt, kontrolliert er jeden der Räume, bevor er ihn abschließt. In einem davon stehen drei Tische, einer mit zwei Computern, dazu ein Whiteboard und ein Metallbehälter mit Stiften. In zwei Wochen, wenn die Vorbereitung auf das neue Schuljahr losgeht, wird er hier wieder Nachhilfeunterricht geben. „Hier ist jeden Tag offen“, sagt er. „Die Kinder kommen nach der Schule hierher und können lernen.“ Besonders wichtig sei das für diejenigen, die zuhause keinen ruhigen Ort oder keinen Zugang zu Technik haben. Bis zu fünf oder sechs Kinder würden sich jeden Tag hier treffen.

Aber noch sind Sommerferien, und die Eltern haben ihre Kinder inzwischen abgeholt. Nur noch Radeks Enkel spielen vor dem Gemeinschaftszentrum, während er sich durch die letzten Aufgaben schleppt, die noch anstehen. Es war ein langer Tag: Die Gruppe war groß, die Kinder aufgedreht, und zwischen ein paar Geschwistern und Cousins gab es nachmittags Streit. Lange kann Radek nicht verschnaufen: Schon morgen ist er wieder als Betreuer bei einem Ausflug zum Zoo dabei. Er seufzt – und muss dann über sich selbst lachen. „Heute bin ich kaputt“, sagt er, „aber morgen sperre ich hier wieder auf und hoffe, dass Kinder kommen.“

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