Ärztin ohne Abi
Der Kampf um die Studienplätze in der Medizin ist erbittert. Selbst Bewerber mit einem Abischnitt von 1,0 wurden im vergangenen Jahr bereits abgelehnt. Heike aus Ochtrup hat gar kein Abitur und studiert trotzdem Medizin. Das hat sie aber einiges gekostet.
Fünf Seiten gelochtes Papier werden Heikes Zukunft bestimmen. Wo sie mal wohnen und arbeiten wird, wo ihre Kinder zur Schule gehen werden. Ein Vertrag, den sie mit zittriger Hand und Freudentränen unterschrieben hat. Denn Heike hat sich dazu verpflichtet, nach ihrem Studium als Hausärztin auf dem Land zu praktizieren. Dieser Vertrag ist Heikes einzige Chance, Ärztin zu werden. Denn eine Menge spricht gegen ihren großen Traum: Ihre Konzentrationsschwäche und schlechte Noten. Ihre Familie, aus der noch niemand studiert hat. Und das Abi, das sie nicht besitzt, vor allem keins mit einer eins vor dem Komma.
Auf dem kleinen Hof am Rande von Ochtrup mit großen, grünen Scheunentoren und einem kleinen Traktor fängt alles an. Ihr Berufswunsch mit vier Jahren, die Diagnose ihrer Konzentrationsschwäche beim Kinderpsychologen auch. Mit kleinen Plastikspritzen behandelt Heike ihre Puppen, die ihre Mutter, eine Krankenschwester, aus dem Krankenhaus mitgebracht hat. Da war es keine Überraschung mehr, als sie beim Abendessen verkündete, Ärztin werden zu wollen. Alle haben gelacht.
Von ihren Mitschülern isoliert
„Meine Grundschulzeit war echt frustrierend“, sagt Heike. Manchmal muss sie an ein einige solcher Momente denken. An die Ecke im Klassenraum ganz hinten, in die sie immer gesetzt wurde, weil sie ihre Impulse nicht unter Kontrolle hatte und zappelig war. Weil ihre Lehrerin mit der Situation total überfordert war. Heike erklärt: „Das mit der Konzentrationsstörung ist ein bisschen so, als würde man in einem Raum mit 100 springenden und bunten Flummis stehen. Und als müsste man sich dann auf einen einzigen davon konzentrieren.“
Nach ihrem qualifizierten Hauptschulabschluss machte Heike dann eine Ausbildung zur Ergo-Therapeutin. „Wenn ich für etwas so brenne, wie für die Medizin, dann steht mir nichts im Weg“, sagt sie. Irgendwann schlich sich bei Heike aber das Gefühl der Unterforderung ein. „Für mich war der Job nicht mehr so erfüllend wie am Anfang.“ Ihr Anatomie-Dozent witterte, dass Heike beruflich noch nicht vollkommen angekommen war und überredete sie dazu, sich nach alternativen Wegen ins Medizinstudium umzuschauen.
Irgendwann wurde sie auf das Landarztprogramm des Landeszentrums für Gesundheit aufmerksam. Alle, die sich dazu verpflichten, nach ihrem Studium als Hausärztin oder Hausarzt auf dem Land zu arbeiten und eine Berufsausbildug gemacht haben, bekommen die Chance auf einen Platz. Wer gegen den Vertrag verstößt, muss 250.000 Euro zahlen. Das ist die Summe, die ein Medizinstudium den Staat kostet.
Ein Abitur ist nicht zwingend nötig. Bewerber:innen ohne Abitur starten aber mit viel schlechteren Bedingungen in die Bewerbungsphase. Da sie keine Abschlussnote haben, wird bei ihnen im Auswahlverfahren mit einer 4,0 gerechnet. Alle mit Abitur haben meist einen deutlich besseren Durchschnitt. Seit 2019 wurden laut des Landeszentrums für Gesundheit in NRW so 527 Studienplätze vergeben, davon studieren aktuell noch 496 Personen. Zu dem Zeitpunkt gab es laut des Gesundheitsministeriums NRW rund 11.500 Hausärzte und -ärtzinnen.
Eine von vier im ganzen Bundesland
Einer dieser Studienplätze ging an Heike. Damit ist sie eine von vier im ganzen Bundesland, die ohne Abitur über das Programm Medizin studieren. Als die Zusage kam, hat Heike geweint. Vor Glück, vor Erleichterung und weil sich die harte Arbeit endlich für sie ausgezahlt hat.
Uni Münster. Die berühmte O-Woche, die erste Woche des Studiums. Die Gelegenheit, an der sich alle Studierenden zum ersten Mal sehen, austauschen und zusammen feiern. Heike hat sich eigentlich fest vorgenommen, geschickt vom Thema Abitur abzulenken, falls jemand danach fragen sollte. Zu groß war ihre Angst, weniger ernst genommen zu werden. Mit einer Sache hat sie nicht gerechnet. „Die Abiklausuren waren so ziemlich das einzige, worüber die Studenten in der ersten Zeit gesprochen haben. Das ist so ein Medizinerding, glaube ich“, sagt sie. Also kam früher oder später raus, dass Heike nur auf einer Hauptschule war. „Damit hast du dir es aber ziemlich einfach gemacht“, hat eine ihrer Kommilitoninnen gesagt.
Ganz so einfach war das dann doch nicht: Drei Jahre Ausbildung zur Ergo-Therapeutin mit guten Ergebnissen, dazu weitere drei Jahre Berufserfahrung mit 55-Stunden-Wochen. Etliche Auswahlverfahren, Mediziner- und Empathietests und das Versprechen, zehn Jahre lang auf dem Land zu praktizieren – all das hat es gebraucht, um sich für einen Studienplatz in der Medizin zu qualifizieren.
Schwieriger Start ins Studium
„Das erste Semester war super“, sagt sie. „Aber auch ein bisschen hart.“ Denn ihr letzter Schultag war nicht wie bei den meisten ihrer Kommilitonen erst ein paar Monate, sondern über sechs Jahre her. Und das Studium setzt da an, wo der Abitur-Lernstoff aufhört. Grundlagen aus der Oberstufe wie Bio, Chemie und Physik, fehlten Heike komplett. Vorkurse hätten helfen können, werden in Münster aber nicht angeboten. Mit Fleiß und Unterstützung von Freunden bestand sie trotzdem alle Klausuren. Viele ihrer Kommilitonen waren dann sehr überrascht, als Heike sie bei den Noten sogar übertraf.
„Ich weiß, dass es noch sehr lange dauert, bis ich eine richtige Ärztin bin. Aber immer wenn ich meinen Kittel anziehe, dann denke ich daran, was ich schon geschafft habe und was aus mir noch alles werden kann“, sagt Heike. Um sich ihr Studium zu finanzieren, will die 24-Jährige nebenbei weiter als Ergo-Therapeutin arbeiten. „Meine Eltern haben mir schon meine Ausbildung finanziert. Ich würde niemals auf die Idee kommen, sie jetzt für mein Studium nach Geld zu fragen.“
Ihre Konzentrationsschwäche ist für sie keine Hürde mehr. „Je älter man wird, desto besser lernt man, damit umzugehen“, sagt Heike und lächelt. „Ich wünschte, das hätte ich schon vor ein paar Jahren gewusst. Dann hätte ich mir viele Sorgen erspart.“
Ihre alte Hauptschule ist nicht weit von ihrem Elternhaus entfernt. Während Heike über ihren alten Schulhof schlendert, spricht sie ein wenig langsamer und wird nachdenklich. Sie läuft an der der Ecke vorbei, in der sie in den Pausen mit ihren Freunden stand und Pläne für ihre Zukunft schmiedete. “Ich bin jetzt Medizinstudentin”, sagt Heike mehr zu sich selbst. “Wer hätte das gedacht.”