Ein Grundbedürfnis, wie die Luft oder das Wasser

Die Buchhändlerin Oksana Kovalenko-Grimm findet: Literatur lindert Einsamkeit. In der UdSSR, wo sie aufgewachsen ist, haben Menschen manchmal drei Monate lang gespart, um ein Buch zu kaufen.

Die 40 Quadratmeter der Buchhandlung Friebe mit Café beherbergen knapp 3000 Geschichten. Bestseller von Benedict Wells und Liebesromane von Colleen Hoover stapeln sich hier bis unter die Decke und Oksana Kovalenko-Grimm ist mittendrin. Es riecht nach Kaffee und neuem Papier. Der Laden hat gerade aufgemacht, das Mahlen der Espressomaschine und vorbeifahrende Autos bilden die Geräuschkulisse. „Lesen ist Schokolade für die Seele“ steht in schnörkeligen Lettern auf einem Schild neben dem Tresen. Die 59-Jährige geht noch weiter: „Für mich sind Bücher ein Grundbedürfnis, wie die Luft oder das Wasser.“

Mit Büchern verbindet sie aber nicht nur Leidenschaft, sie sieht den Buchhandel durchaus pragmatisch. „Bücher sind auch meine Existenz“, sagt sie. Seit zehn Jahren ist die gebürtige Ukrainerin Inhaberin des Ladens in der Kaiser-Wilhelm-Straße, das Geschäft existiert jedoch bereits 70 Jahre lang. Einige Kundinnen und Kunden kämen schon seit einem halben Jahrhundert her, erzählt sie, und hätten sogar schon ihre Schulbücher hier gekauft. 

Auch an diesem Samstag im August trudeln die Stammkundinnen nach und nach ein. Eine Seniorin kauft ein Kinderbuch für ihre Enkelin, ein Rentner einen Fantasyroman. Bei der Auswahl vertrauen die meisten Kovalenko-Grimms Urteil. „Kaffee? Kuchen?“, fragt sie die Kunden beim Betreten des Ladens und hat individuell zugeschnittene Buchtipps parat. Ihre Buchhandlung ist auch ein Ort der Begegnung. Vor allem während der Corona-Pandemie seien mehr Bücher gekauft worden als zuvor. Zum einen, weil andere Ablenkungsmöglichkeiten wie das Theater oder Kino weggefallen seien. Zum anderen, weil das Lesen zumindest ein kleiner Schritt raus aus der Einsamkeit gewesen sei. „Bücher bieten Menschen die Möglichkeit, in fremde Welten und Schicksale einzutauchen“, sagt Kovalenko-Grimm. Begonnen hat ihre Liebe zur Literatur mit einem Tauchgang in die Welt Aschenputtels, als sie noch ein Kind war.

In der UdSSR, wo sie aufgewachsen ist, seien spannende Bücher eine Luxusware gewesen. „In Buchhandlungen gab es nur parteikonforme Literatur“, erzählt sie. „Vieles konnte man nur unter dem Tisch kaufen. Manche haben drei Monatsgehälter für ein Buch ausgegeben.“ Ein gutes Buch zu lesen sei für sie deshalb nach wie vor etwas Besonderes. Noch heute spüre sie „ein Rauschgefühl“, wenn sie auf eine „Perle“ treffe.

Ein Buch hat ihr sogar den Anstoß gegeben, den Beruf zu wechseln, der Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. Darin verlässt ein Lehrer plötzlich seine Schule  und folgt einer Frau, die er liebt. Kovalenko-Grimm war damals selbst Grundschullehrerin gewesen. „Ich habe das Buch mittendrin zugemacht und wusste: Ich muss was ändern“, sagt sie. Ihr Blick schweift in eine unbestimmte Ferne und verharrt dort für einen Moment.

Anders als Merciers Lehrer sei sie jedoch nicht sofort gegangen, weil sie die Verantwortung gegenüber den Schülern gespürt und die Pragmatik doch wieder überhand genommen habe. Den Nachtzug nach Lissabon hat sie erstmal beiseite gelegt. Erst zwei Jahre später, nach dem Wechsel in die Buchbranche, habe sie guten Gewissens weitergelesen. „Die Bücherwelt war eben schon immer meine Welt.“

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