Ein Geschäft reist durch die Zeit

Das Antiquitätengeschäft Seidel & Sohn steht vor einem Generationswechsel. Oft waren es Frauen, die den Laden in schwierigen Zeiten geführt haben. Nun wird Alexandra Seidel ihn übernehmen, vielleicht als Letzte.

Eine deckenhohe Standuhr, goldene Kronleuchter und mittendrin ein Herr mit weißem Haar. Bernd Seidels liest in Ruhe seine Zeitung, blättert immer wieder um. Dann, plötzlich, im Hintergrund: schnelle Schritte, dazu das Klappern eines Schlüssels. Seine Tochter, Alexandra Seidel, kommt aus dem Hinterzimmer. Sie trägt Jeans und einen blau schimmernden Stein an einer Halskette, die Ärmel ihrer weißen Bluse sind locker hochgekrempelt. Das Antiquariat Seidel & Sohn in Berlin-Schöneberg, das ihrer Familie in vierter Generation gehört, sie wird es bald übernehmen.

Oft denkt die 56-Jährige über die lange Geschichte des Unternehmens nach, wenn sie hier sitzt, auf dem gepolsterten Stuhl mit geschwungenen Holzlehnen. Sie hat schon ihre Kindheit geprägt, die sie in einer großen Wohnung in Charlottenburg verbracht hat: „Es war alles voller Kunst“, sagt Seidel. Ihr Urgroßvater Hugo Weiland, eigentlich Sattler und Tapezierer, hatte den Handel 1905 gegründet.

Alexandra Seidels Übernahme, sie steht in dem Antiquariat in langer Tradition: Schon zweimal waren es Frauen, die den Laden von Männern übernommen haben, gerade in Zeiten großer Krise. 1916, zu Kriegszeiten, war das Auguste Weiland, hinein in die Weimarer Republik, durch Inflation und Weltwirtschaftskrise. Und 1952, inmitten der unsicheren Nachkriegszeit, war es ihre Tochter Margarete, die das Geschäft für 20 Jahre übernahm. Obwohl der Handel von Männern dominiert ist, steht für Alexandra Seidel fest: „Es geht um das Wissen. Wenn die anderen mitbekommen, was man weiß, dann wird man anerkannt.“

Und trotzdem steht auch sie vor Herausforderungen. Der Markt für Antiquitäten, er hat schon bessere Zeiten gesehen. Das sieht man schon an der Keithstraße in Berlin-Schöneberg, in der sich Seidels Laden befindet. Gab es dort einst an die 30 Antiquitätengeschäfte, sind heute nur wenige geblieben. Vor vielen stehen Ausverkaufsschilder. Doch Alexandra Seidel glaubt fest an den Laden, will ihn in eine digitale Zukunft führen. In einem Hinterzimmer hat sie eine weiße, professionell ausgeleuchtete Fotobox aus Plastik installiert, um ihre neueste Errungenschaft für die Internetseite zu dokumentieren: einen strahlenden Silberbecher. Seit zwei Jahren macht die Antiquitätenhändlerin auch Instagram. „Ohne geht es nicht”, sagt sie.

Ein Prozess, den ihr Vater Bernd Seidel vor rund 50 Jahren eingeleitet hat, ist die Spezialisierung auf „Militaria“. Das sei der Handel mit Stich- und Schusswaffen, sagt Alexandra Seidel, während sie mit der Hand über den feuervergoldeten Griff eines Degens streicht. Säbel, Degen und Pistolen kosten hier zwischen 3000 und 30 000 Euro. Viele würden sich die Waffen nur an die Wand hängen, manche aber auch tatsächlich damit schießen. „Das sind alte Waffen, die können in dem Moment auch kaputt gehen“, fügt die Händlerin sachlich hinzu. Ihr persönliches Interesse liegt beim Handwerk, bei der Kunst und Malerei. Was sie an der Kunst am meisten schätzt?: „Sie ist einem permanenten Wandel unterworfen.“

Wie es in dem Laden weitergeht, das hängt nicht nur am Geschäft, der Digitalisierung, Alexandras Strategien. Ob die Familie das Unternehmen weiterführen kann, ist fraglich, denn ihr einziger Sohn will hier nicht arbeiten. Er beginnt bald eine Ausbildung zum Klima- und Heizungstechniker, Antiquitäten waren „noch nie so sein Ding”. Doch erstmal macht Alexandra Seidel weiter, wohl in letzter Generation. Sie wendet sich dem Silber zu, ihr Vater schlägt die Zeitung um, ein Hund legt seinen Kopf auf die kalten Fließen und die Uhr läuft weiter, Stunde um Stunde.

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