ABGELIEFERT
Jede Minute zahlt
Ding-ding. Auf dem Handy erscheint eine Adresse. „KFC Černý Most, Praha 20“. Nikol Grossová lehnt sich im Fahrersitz nach vorne, die dunklen Haare fallen über das T-Shirt mit der Aufschrift „Dodo“. Sie tippt den Bildschirm mit dem Zeigefinger an, die Nägel sind ordentlich lackiert. Eine Navigations-App öffnet sich, zeichnet eine blaue Linie über die Karte. Das Auto beschleunigt, draußen ziehen Plattenbauten vorbei wie eine Kette aus Beton.
Zehn Kilometer weiter westlich, im Prager Bezirk Karlín, reihen sich mit Stuck verzierte Altbauten in Pistaziengrün und Pfirsichrosa aneinander. Dazwischen ein modernes Gebäude, an die Betonpfeiler schmiegen sich Fahnen in markantem Türkis: „Dodo“ steht darauf. Im Aufzug führt der oberste Knopf in die sechste Etage. Hinaus, nach links, dann nach rechts durch eine schwere Tür. Mit übereinander geschlagenen Beinen sitzt Michal Menšik in seinem Büro.
Der 38-Jährige ist CEO des Logistik-Start-ups Dodo, das Lieferungen auf der „Letzten Meile“ für Geschäftskunden übernimmt. Als Menšik das Unternehmen vor sieben Jahren aufkaufte, bestand es aus nur zwei Fahrzeugen und zehn Kurieren. Heute ist Dodo in sieben Ländern aktiv, darunter seit kurzem auch in Deutschland, und machte zuletzt einen Jahresumsatz von umgerechnet knapp 55 Millionen US-Dollar. Die Unternehmensberatung Deloitte hat Dodo im Jahr 2020 als die am zweitschnellsten wachsende Firma Tschechiens geführt.
Daten und Algorithmen sollen Lieferungen effizienter machen
„Als wir gestartet sind, war abzusehen, dass Themen wie Logistik und E-Commerce immer wichtiger werden würden“, sagt Menšik. „Aber ich habe nie erwartet, dass wir so weit kommen würden.“ Innerhalb von wenigen Jahren hat er ein erfolgreiches Geschäftsmodell aufgebaut: Das Start-up übernimmt für seine Kunden den gesamten Prozess der Lieferung, vom Management der Flotte bis hin zur Software. Dadurch soll die Logistik nicht nur effizienter, sondern auch nachhaltiger werden, weil unnötige Fahrtwege gespart werden.
„Teil unserer DNA ist es, jede mögliche Minute durch Optimierung einzusparen“, sagt Menšik. Dafür zahlen Unternehmen wie KFC, Burger King oder Tesco eine Gebühr für jede Bestellung. Mit diesem Konzept ist Dodo bereits seit mehreren Jahren profitabel – eine Seltenheit in der E-Commerce-Branche. „Ich bin sehr stolz darauf, was wir in so kurzer Zeit aufgebaut haben und wie sich das Team an die vielen Entwicklungen im Markt anpasst hat“, sagt der CEO.
Mehr als 2300 Kuriere arbeiten inzwischen für das Start-up – eine von ihnen ist Nikol Grossová. Die 24-Jährige liefert seit fünf Jahren Bestellungen für Dodo aus. Elf Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Sie ist für eine festgelegte Lieferzone in Černý Most zuständig, einem Außenbezirk im Nordosten von Prag. Rund 200 Kilometer fährt Grossová am Tag, in manchen Phasen auch deutlich mehr. „Du musst dich die ganze Zeit auf die Straße konzentrieren. Das kann manchmal etwas Stress mit sich bringen, vor allem in der Weihnachtszeit“, sagt sie. „Ich versuche immer ruhig zu bleiben, auch wenn ich innerlich manchmal Panik bekomme.“
Auf dem KFC-Parkplatz parkt sie den türkisen Kleinwagen, zieht den Schlüssel ab und holt eine Tragetasche aus dem Kofferraum. Vorbei an Schaufenstern, die für Erdbeer-Milchshakes werben, hinein in das Stimmengewirr und den Fettgeruch des Fast-Food-Ladens. Die Bestellung wandert über die Theke in die Tasche. Zurück zum Auto, Klappe auf, Klappe zu. Zwei weitere Klicks auf den Handybildschirm und der Wagen rumpelt rückwärts vom Parkplatz herunter.
Jeder Schritt der Fahrer wird überwacht
Die App, die auf Grossovás Handy läuft, ist der ganze Stolz des Start-ups. Basierend auf einer Vielzahl von Daten, etwa zum Verkehrsaufkommen und zur aktuellen Nachfrage, berechnet „Gaia“ die optimale Zuteilung und Route für die Kuriere. Dafür wird jeder Schritt der Fahrer überwacht: wie schnell sie Bestellungen annehmen, ob sie das Tempolimit einhalten, wie scharf sie bremsen. Wer effizient und fehlerfrei unterwegs ist, bekommt am Ende des Monats einen Bonus ausgezahlt.
Wer die vorgegebenen Standards nicht einhält, muss gehen. „Das ist wie in jedem anderen Job“, sagt CEO Menšik. „Es gibt Anforderungen und Herausforderungen. Für manche ist das vielleicht nicht ganz passend.“ Bei einer Arbeitszeit von 55 Stunden pro Woche verdient Grossová umgerechnet rund 1650 Euro im Monat, das liegt etwas unter dem Durchschnittseinkommen in Tschechien. Weil sie nicht festangestellt ist, sondern Selbstständige, fließt ein Teil des Gehalts in Sozialversicherungen und Altersvorsorge.
Wenn sie wegen Krankheit ausfällt, bekommt sie kein Geld. Darum fahre sie auch, wenn sie Kopfschmerzen hat, sagt die 24-Jährige. Nach der Schule habe sie auch andere Jobs ausprobiert, die besser bezahlt werden – im Reisebüro oder als Immobilienmaklerin etwa. „Aber bei Dodo mag ich das Gemeinschaftsgefühl. Viele Arbeitskollegen sind zu Freunden geworden“, erzählt sie. „Und mir gefällt es, ständig unterwegs zu sein. Manchmal ist es aber auch etwas einsam im Auto.“
Um noch schneller wachsen zu können, rollt das Start-up ein Franchise-Konzept aus. Statt Manager in der Zentrale anzustellen, soll es viele kleine Subunternehmen geben, die jeweils ein paar Dutzend Kuriere unter Vertrag haben. „Sie kennen die Umgebung besser, sie kennen die Menschen besser. Es ist viel persönlicher“, sagt Menšik. Vor allem aber soll der neue Ansatz wirtschaftlicher sein: Wer in eine Franchise investiert hat, so die Logik, denkt wie ein Unternehmer – nicht wie ein Angestellter – und wird darum auch effizienter wirtschaften.
60 Millionen Euro für die Expansion nach Deutschland
In Menšiks Eckbüro in der Dodo-Zentrale rahmt eine riesige Fensterfront den Blick auf das Nationaldenkmal am Veitsberg, eine wuchtige Reiterstatue hoch über der Stadt. Die Wand ist nicht verputzt, an der Decke schlängeln sich Rohre und Kabel. „Director“ verkündet ein winziges Schild auf dem Schreibtisch. Menšik trägt eine kurze Hose und Sneaker, sein Hemd ist oben aufgeknöpft. Während er spricht, knautscht und knotet er ein Armband aus Holzperlen zwischen seinen Händen. Er wirkt etwas zu groß für den Stuhl, auf dem er sitzt.
Im vergangenen Jahr hat das Start-up erstmals Risikokapital aufgenommen: Umgerechnet 60 Millionen Euro von den tschechischen Investoren Daniel Křetínský und Patrik Tkáč flossen in das Unternehmen. „Ich spüre eine große Verantwortung gegenüber den Investoren, Ergebnisse zu liefern“, sagt CEO Menšik, der mit seiner Firma V-Sharp noch immer eine Mehrheit an Dodo hält und damit laut Forbes zu den 100 reichsten Tschechen gehört.
Mit dem Geld solle vor allem die Expansion nach Deutschland vorangetrieben werden, sagt er. „Deutschland ist für mich so etwas wie der heilige Gral. Wir müssen jetzt zeigen, dass wir uns auch auf diesem größeren Markt beweisen können.“ Während in Tschechien neue Technologien schnell angenommen würden, reagierten die Menschen in Deutschland meist sehr zurückhaltend. „Der tschechische E-Commerce-Markt ist viel weiter fortgeschritten als der deutsche“, erklärt der 38-Jährige. „Darum ist das Potenzial für uns dort riesig. Aber es ist auch kein einfaches Vorhaben, weil das Land sehr groß und dezentralisiert ist.“
Dodo konkurriert mit einer Vielzahl unterschiedlicher Geschäftsmodelle, die bereits auf dem deutschen Markt aktiv sind, darunter Schnelllieferdienste wie Getir oder Flink. Der Vergleich werde seinem Start-up nicht gerecht, findet Menšik: „Es gibt wichtige Unterschiede: Wir wollen den Endkunden nicht abwerben. Und wir hatten nie Probleme damit, profitabel zu werden.“ Im Dezember wurde Ex-Amazon-Manager Bahadir Birkan als CEO für Deutschland und Österreich eingesetzt; die ersten Kunden sind die Lieferdienste Bringmeister und Frugee.
Wirtschaftskrise stellt das Start-up vor Probleme
Neben dem Lebensmittelmarkt habe Dodo auch Online-Händler wie Zalando im Visier, sagt Menšik. Doch die schwierige wirtschaftliche Lage und Lieferprobleme in der Automobilbranche hätten die Pläne erst einmal ausgebremst. Für das aktuelle Jahr sei die Umsatzprognose daher „sehr konservativ“ auf 60 bis 65 Millionen US-Dollar angesetzt worden. „Wir werden unsere Ziele wegen der wirtschaftlichen Entwicklungen nicht in der Zeitspanne erreichen, wie wir es uns vorgenommen hatten“, räumt der CEO ein. Schnell fügt er hinzu: „Aber das ist ein normaler Wirtschaftszyklus. Früher oder später werden wir sie erreichen.“
In einem Regal gegenüber der Fensterfront in Menšiks Büro stehen, sorgfältig arrangiert, Champagnerflaschen, gläserne Awards, eine Urkunde für die Nominierung als Unternehmer des Jahres 2020 in Tschechien. Und: Star Wars-Sammlerstücke aus Lego, mit Hintergrundbeleuchtung und Echtheitszertifikat. Über dem Retrokühlschrank hängt eine Collage mit Wünschen zu seinem 30. Geburtstag. In der Mitte klebt eine Fotomontage von Menšik auf dem Cover des tschechischen Forbes Magazine. „Das wünsche ich dir“, steht daneben. Knapp acht Jahre später, im Juli 2022, titelte die Zeitschrift: „Michal Menšik und seine Reise durch die Geschäftswelt“.
Nikol Grossovás Reise durch den Prager Straßenverkehr führt auf keine Titelseite, sondern nur zum nächsten Kunden. Noch zwei Minuten Fahrtzeit bei wenig Verkehr, zeigt das Navi an. Sie manövriert den VW geübt durch das Wohnviertel, nur die linke Hand am Lenkrad. Sie stoppt vor einem kleinen Haus. Ein Hund tapst zum Tor und blinzelt durch das zottelige Fell, ein blonder Junge läuft hinterher und nimmt die Tüte über den Zaun entgegen. Grossová steigt wieder ins Auto und schnallt sich an. Trinkgeld gab es nicht. Ding-ding. Auf dem Handy erscheint eine neue Adresse.