Krisenapparat EU: Die Briten wollen raus, die Flüchtlinge wollen rein und das Misstrauen gegenüber Brüssel wächst. Was macht das mit den Menschen, die täglich daran arbeiten, dass Europa nicht auseinanderfällt? Sechs EU-Köpfe aus sechs verschiedenen Ländern - Politiker, Lobbyisten, Journalisten - zeigen ihren Brüssel-Kosmos.
Im Europaviertel in Brüssel laufen die Fäden des ganzen Kontinents zusammen:
Gedrängt auf eineinhalb Quadratkilometern entscheiden Kommission,
Parlament und Rat über den Alltag einer halben Milliarde EU-Bürger.
Zehntausende Menschen sorgen täglich dafür, dass die EU-Maschinerie läuft.
Pünktlich 8:15 Uhr steigt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok am ARD-Studio aus der Limousine. Sein Tag ist im Viertelstundentakt geplant. Das Radio-Interview mit einem BR-Journalisten ist der erste von über 20 Terminen, die heute in seinem Kalender stehen.
Termine heute:
Wendel Trio kämpft in Brüssel für den Klimaschutz. Jeden Tag aufs Neue, sogar auf den kleinsten Bühnen der Stadt. Er versucht, die tauben Politiker wachzurütteln. Sie sollen sich endlich daran halten, was sie im Klimavertrag versprochen haben – und die EU nicht länger im Regen stehen lassen.
Sitzungen in Brüssel, Luxemburg oder Straßburg, spontane Interviews, Hektik: Das prägt oft den Alltag der Korrespondenten in Brüssel. Wie funktioniert die Arbeit von Journalisten im EU-Apparat? Der einzige luxemburgische Korrespondent Diego Velazquez erzählt es selbst und macht dabei immer ein Selfie.
Wenn in Brüssel jedes Abendessen zu einem politischen Termin wird, jeder Kaffee zu einer geschäftlichen Verabredung – wie kann man da abschalten? Der Eine reist jede Woche nach Hause, der Andere lernt Deutsch mit Thomas Mann – und der Dritte geht einfach schlafen.
Der EU-Abgeordnete Alfred Sant aus Malta lernt Deutsch. Aber nicht von irgendwem, sondern von Thomas Mann. Die großen deutschen Schriftsteller und ihr Sprachstil faszinieren den Politiker seit seiner Jugend. Fließend wird Alfred Sant Deutsch – wie er selbst sagt – niemals sprechen. Aber er kann damit führende EU-Köpfe aus Deutschland besser verstehen. Das findet er wichtig.
„Mein Mann und ich sind erst vor kurzem nach 15 Jahren in Brüssel nach Slowenien zurückgezogen. Weil wir uns nur selten sahen, haben wir entschieden, unser Leben nach Slowenien zu verlagern. Von Montag bis Donnerstag Nachmittag bin ich in Brüssel, an den Wochenenden muss ich in Slowenien präsent sein. So können wir wenigstens von Freitag bis Sonntag Zeit zusammen verbringen. Das war eine schwere Entscheidung. Wenn ich von Slowenien nach Brüssel fahre, erwische ich mich beim Gefühl, dass ich nach Hause fahre. Das ist bizarr, denn für mich sind beide Orte mein Zuhause.“
Auch abends, wenn Elmar Brok unzählige Meetings, Diskussionen und Empfänge hinter sich gebracht hat, kann er der Politik nicht entkommen. Seine Bekannten hier sind alle Teil des EU-Apparats. Wie viele Abgeordnete verbringt Brok die Wochenenden in der Heimat. In Bielefeld erledigt er seine Wahlkreistermine, sieht seine Familie und findet auch mal Zeit für Hobbys: Pfeiferauchen, mit dem Hund rausgehen und Schalke 04.
Es fehlt an Europa und es fehlt an Union, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schon vor einem Jahr. Dann kamen die Flüchtlinge und der Brexit. Heute ist die EU so gespalten wie nie zuvor. Steht Europa jetzt auf dem Spiel?
Auf diesen Tag hat Elmar Brok ein halbes Jahr hingearbeitet: Er stellt seinen Bericht über das versteckte Potential im Lissabon-Vertrag der internationalen Presse vor. Er hat es satt, dass sich nationale Regierungen vor unpopulären Entscheidungen drücken und dafür die EU-Verträge verantwortlich machen. Mit seinem Vorstoß möchte er zeigen: Das stimmt nicht.
Bankenkrise, Flüchtlingsverteilung, Brexit: Europa hat viele Baustellen, die Unternehmen und Verbände verunsichern. Eleanor Flanagan ist eine von rund 30.000 Lobbyisten in Brüssel, die davon sogar profitieren.
Tanja Fajon, Sozialdemokratin, Europa-Verfechterin. Seit 2004 gehört ihr Heimatland Slowenien zur EU. Für sie ist die Europäische Union ein absolutes Privileg, die jetzt mit all den aktuellen Krisen auf dem Spiel steht. Sie fordert mehr Solidarität in Europa.
Alfred Sant, Sozialdemokrat, Europa-Kritiker. Der 68-jährige Maltese hat in seiner Heimat immer Stimmung gegen die EU gemacht, seit 2014 sitzt er nun im Europäischen Parlament. Widerspruch oder logische Konsequenz? Ein Einblick in die Arbeit des selbsternannten Euro-Realisten.
Am Puls der Entscheidungen Europas Mächtigen über die Schultern schauen – Diego Velazquez wollte schon immer aus Brüssel berichten. Den Lesern zeigen, wohin das Schiff Europa steuert. Gerade schlagen die Wellen besonders hoch, findet er. Das verschuldete Griechenland, Migrationskrise, Brexit. Große Herausforderungen, auch für Journalisten.
In Belgien leben, ohne Belgier zu kennen? Willkommen in der Brüsseler Blase. Drei von vier EU-Beamten geben zu, dass sie in einer ganz eigenen Welt leben. Sie bleiben unter sich, schicken ihre Kinder auf internationale Schulen und gehen nicht zur Bürgermeisterwahl.
„Brüssel ist wirklich eine Blase, wie ein Dorf, in dem sich alle für die gleichen Sachen interessieren. Das verbindet die Leute, denn es gibt immer etwas, worüber man reden kann.”
Die Welt, in der sich EU-Politiker, Journalisten und Lobbyisten bewegen, ist eine in sich geschlossene Sphäre. Tanja Fajon möchte sich davon nicht vereinnahmen lassen. Der Slowenin ist der Kontakt in die Heimat wichtig. Für ihre Landsleute, die weit weg von Brüssel leben, ist der aufgeblasene EU-Apparat fremd. Die von ihr mitbegründete Initiative “Together – A new direction for a progressive Europe!”, soll das verändern. Ziel des Projekts ist eine Neuausrichtung der EU – von Bürgern für Bürger. Zur Eröffnung sind Delegationen aus 37 verschiedenen Ländern angereist. Auch Slowenen sind mit an Bord.
In den fünfziger Jahren stand die EU für “nie wieder Krieg”. Später für Wohlstand und freies Reisen von Lissabon bis Bukarest. Und jetzt?